1Ein ungebetener Besucher
Kat Wolf erwachte mit einem steifen Hals und dem mulmigen Gefühl, nicht allein zu sein.
Sie hielt die Luft an. Hatte sie etwas gehört oder nicht? Da war es wieder – ein schwaches metallisches Kratzen. Kat entspannte sich. Der Riegel am Küchenfenster war etwas locker und wackelte bei jedem Windstoß.
Sie setzte sich auf, rückte die Kissen zurecht und angelte ihre Decke vom Fußboden. Es war nun schon die dritte Nacht, in der sie auf dem Sofa eingeschlafen war, weil sie auf ihre Mutter wartete. Aber freitagabends ging es in der Tierarztpraxis, in der Dr. Ellen Wolf arbeitete, immer ziemlich hektisch zu, und ihre beiden Chefs, Edwina Nash und Vince Craw, bestanden darauf, dass ihre Angestellten (Kats Mutter und zwei gestresste Helferinnen) alles behandelten, was kam.
Kat konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre Mutter über denOP-Tisch gebeugt stand und ihr Möglichstes tat, um das Leben eines Labradoodle-Welpen zu retten, der eine Schachtel Schokoherzen oder einen Diamantring verschluckt hatte, oder um ein Maine-Coon-Kätzchen zusammenzuflicken, das von einer leichtsinnig aufgestellten Kerze versengt worden war.
Edwina und Vince würden derweil in ihrem Büro im Hinterzimmer der Praxis fröhlich ausrechnen, wie hoch ihre Tageseinnahmen sein würden. Wie eineiige Zwillinge des geizigen alten Scrooge würden sie über einer Kalkulationstabelle sitzen und das Dreifache des üblichen Satzes für einen Notfall berechnen, plus die Verwaltungsgebühren, plus das Röntgen, die Infusionen, die Vitaminspritzen, Scans, Labortests, Antibiotika, Katzenminze, Kauspielsachen, Flohsprays und Schmerzmittel. Und wenn die Tierbesitzer hinterher ihre Rechnung sahen, waren manche selbst reif für die Notaufnahme.
Dr. Wolf war der Meinung, ein guter Tierarzt müsse zum Teil Psychologe, zum Teil Tierflüsterer sein. Sie setzte sich regelmäßig für die Rechte von Haustieren ein. Und besonders die Rentnerinnen und Rentner liebten sie. Die meisten kamen eher, um etwas Gesellschaft zu haben, als dass ihr Haustier Hilfe gebraucht hätte.
Da Kats Mutter wusste, dass eine einzige Tierarztrechnung ihre magere monatliche Rente aufgefressen hätte, hatte sie sich angewöhnt, den einen oder anderen Termin wegzuzaubern, indem sie einfachvergaß, ihn zu notieren. Kein Termin – und folglich auch keine Rechnung. Allerdings war es nicht so, dass Dr. Wolf dieNash& Craw Premium Tierpraxis für eine Wohltätigkeitsorganisation gehalten hätte, das nicht. Aber sie glaubte an Fairness.
Und irgendwie hatten Edwina und Vince von denvergessenen Behandlungsterminen Wind bekommen und waren durch die Decke gegangen. In den letzten drei Monaten hatten sie Dr. Wolf jeden Penny, den sie ihnen ihrer Meinung nach schuldete – plus Zinsen –, vom Gehalt abgezogen. Okay, Kat und ihre Mutter nagten nicht direkt am Hungertuch, aber Bohnen auf Toast standen bei ihnen neuerdings öfter auf dem Speisezettel.
Spaß machte ihnen Dr. Wolfs Job auch nicht mehr. Die ganzen zwölfeinviertel Jahre von Kats Leben waren es immer nur sie und ihre Mutter gegen den Rest der Welt gewesen. Nicht, dass es Kat etwas ausgemacht hätte. Sie verbrachte die Wochenenden einhundertundeinprozentig lieber mit ihrer Mutter und den Tieren als mit den auf Selfies versessenen Mitschülerinnen ihrer langweiligen Londoner Schule.