Das Städtchen Neuendorf, im Herzen Mecklenburgs gelegen und von drei Seen umgeben, war gewiß kein besonders attraktives Ausflugsziel für Leute, die unbedingt viel erleben wollten. Wer hier wohnte oder Urlaub machte, liebte das friedliche, ländliche Leben und nicht die Betriebsamkeit und Hektik der Großstadt.
Offenbar war aber in den letzten Jahren der Wunsch nach Ruhe und Beschaulichkeit größer geworden, so daß Ausflugslokale und Pensionen über Mangel an Gästen nicht zu klagen hatten. Die Sehnsucht nach unberührter Natur trieb Wanderer aller Arten, ob mit Rad oder Boot oder ganz einfach auf Schusters Rappen, in die dünnbesiedelte Landschaft, wo seltene Tier- und Pflanzenarten noch ihren natürlichen Lebensraum hatten.
Sehr gern marschierten die Erholungssuchenden auch durch die malerische Vorstadt, die viele der Einheimischen recht poetisch den ›Wiesengrund‹ nannten.
Die alten Häuser, meist noch vor dem Krieg erbaut, standen noch nicht so dicht gedrängt beieinander, wie es heute der Fall ist, sondern waren weitläufig angeordnet und von großen Gärten mit hohen Obst- und Nadelbäumen umgeben.
In einem der letzten Häuser des Wohngebietes, da wo der Wiesengrund allmählich in den Mischwald überging, wohnte Elisa Mangold mit ihren drei Kindern.
Ihr Haus stand direkt am Wiesenweg, einem kaum befestigten Pfad, der zum Uckersee führte. Dieses Haus schien eines der ältesten zu sein, jedenfalls sah es so aus. Doch diese Tatsache war nur der Mutter bewußt, für die Kinder war das alte Gebäude eben ihr Zuhause und ein einzigartiges Spielparadies. Nirgends war es ihrer Ansicht nach so herrlich wie hier, wo man im Sommer die vielen bunten Schmetterlinge beobachten konnte, die über die Wiesen flatterten, wo Fisch- und Schreiadler ihre Kreise zogen, und wo im Winter, wenn Schnee lag, der Tannenberg zum Rodeln einlud.
Aber wie in jedem Paradies gab es auch hier so etwas wie eine Schlange. In diesem Fall handelte es sich um eine Kröte, die an einem Tag im Mai, wahrscheinlich während einer Stunde der geöffneten Tür, im Haus am Wiesengrund Unterschlupf gesucht hatte.
Sie war, wie man so schön sagt, der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Elisa Mangold erkannte beim Anblick des kleinen Kriechtieres, daß sie bald etwas unternehmen mußte, damit sie und ihre Kinder unbesorgt in die Zukunft schauen konnten.
*
Ein lautes, langgezogenes »Muuuttiii« ertönte von der Veranda her. Dort stand die neunjährige Anja und wies mit dem Finger entsetzt auf das dicke grünbraune Tier, das seelenruhig in einer Ecke unter einer Blattpflanze saß und keine Anstalten machte, das Weite zu suchen.
Elisa Mangold seufzte laut. Man konnte es der Kröte nicht verdenken, daß sie sich in der Veranda häuslich niederlassen wollte. Schließlich war es hier, wie fast überall im Haus, schön feucht. Und doch liebte Elisa dieses alte Gemäuer, denn es war geräumig, hatte einen großen Garten und stand in der Nähe einer Bushaltestelle. Und es war das Erbe ihres Mannes, das sie für ihre Kinder unbedingt erhalten wollte, so schwer ihr das auch manchmal fiel.
Anjas Schrei hatte auch ihre Geschwister herbeigelockt. Nun starrten alle drei Kinder auf das harmlose Tier.
»Die Kröte tut euch nichts«, sagte Elisa nun mit einer gewissen Ungeduld. »Anja, geh und hole Schaufel und Handfeger.«
Die Kleine lief davon, indessen wollte Christoph wissen: »Was machst du mit die Kröte? Machst du ihr jetzt tot?«
»Nein. Wir setzen sie nachher in den Garten.« Elisa lächelte insgeheim über ihren Jüngsten, der immer ein erstauntes Gesicht zu machen schien, und der die meisten Probleme mit dem Erlernen der deutschen Sprache hatte. Zu einem großen Teil lag das aber auch an Tino Hinze, seinem besten Freund. Christoph hing an dem um ein Jahr älteren Jungen wie eine Klette und ahmte eifrig dessen fehlerhaften Sprachgebrauch nach.
Inzwischen war Anja wieder da, und Elisa fegte die Kröte einfach auf die Schaufel.
»Es ist besser, wenn ich die Kröte zum Froschteich bringe«, schlug die siebenjährige Bettina eifrig vor. »Dort wird sie sich wohler fühlen als bei uns im Garten.« Schon immer sehr tierlieb, nahm sie die Schaufel mit dem kleinen Tier und setzte es in einen Spielzeugeimer.
Christoph nickte bekräftigend dazu und begleitete seine Schwester, während Anja anzusehen war, daß sie am liebsten igitt-igitt gesagt hätte.
Als ihre Geschwister gegangen waren, sah sie sich in der Veranda um und sagte altklug: »Die Möbel schimmeln schon und auf dem Dachboden regnet es durch. So geht das nicht weiter, Mutti.«
»Ja, so geht es wirklich nicht weiter«, wiederholte Elisa leise. »Irgend etwas muß passieren. Aber was?«
»Können wir nicht auch das Dach neu machen lassen, so wie bei Frau Hensel?«
Elisa schüttelte traurig den Kopf. »Das können wir nicht bezahlen.«
»Schade«, erwiderte das Mädchen betrübt. »Und ich dachte, unser Haus würde auch mal so hübsch aussehen. Die Bauarbeiter haben dort rotbraune Ziegel aufgedeckt und das Haus hellgelb gestrichen…«
»Wart ihr etwa auf der Baustelle?«
»Aber nein«, beruhigte Anja die besorgte Mutter. »Wir haben nur Futter für die Kaninchen gesucht und sind den Wiesenweg entlanggegangen. Da haben wir von weitem zugeschaut. Chrischi wäre natürlich am liebsten dicht herangegangen, aber Tina und ich haben ihn nicht gelassen.«
»Das war auch richtig so«, sagte Elisa erleichtert. »Fremde haben auf einer Baustelle nichts zu suchen, und Kinder schon gar nicht.«
Am Abend, als Anja, Tina und C