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ZÜGE, ZÜGE.
Einmal quer durch das, was sich immer noch Reich nennt, auch wenn es halb stolz, halb verzweifelt darauf beharrt, Republik zu sein. Edgar kümmert das Hickhack wenig. Politik stopft den Kopf voll wie hektische Hände, die Papier zu Kugeln zerknüllen und in überquellende Abfallkörbe pressen, bis nichts – kein Wort, kein Bild, kein Gedanke – mehr erkennbar ist. Damit kann er sich nicht befassen. Er braucht seinen Kopf so leer wie einen blank radierten Bogen auf dem Skizzenblock. Nur in solcher Leere ist er imstande, zu zeichnen, nur in solcher Leere besteht Hoffnung auf etwas, das sich einschleicht und festhalten lässt. Wenn er schnell ist. Wenn der Strich sich fügt, er einen guten Tag erwischt und nichts und niemand ihm dazwischenpfuscht. Im anderen Fall muss er die schweigsamen Kreaturen, die vagen Visionen ziehen lassen und auf neue warten.
Deshalb gefällt ihm dieses Reisen in Zügen. Weil nichts lange bleibt, weil alles, was in Sicht kommt, sich auch selbst wieder auswischt, statt die Hirnwindungen zu verstopfen, weil er es, wenn er aus- und in den nächsten Zug umsteigt, schon wieder vergessen hat. Glaubt, vergessen zu haben. In Wahrheit lauert es irgendwo darauf, aus der Vergessenheit emporzuschnellen, verändert, verfremdet, in ein Geheimnis gehüllt, und gerade so will er es haben. Seit Hamburg-Altona, wo er mit kaum nennenswerten Unterbrechungen seine achtundzwanzig Lebensjahre verbracht hat, hat er schon vier Züge genommen. Dieser nun, der Regionalzug von München nach Garmisch, ist der fünfte.
Man sitzt bequem darin. Und die Aussicht – dieser gewaltsam der Erde abgefaltete Drachenrücken aus Bergen – ist fantastisch. Edgar mag dieses Wort, mag es zu gern, um es häufiger zu benutzen.Fantastisch. Es taugt für all das, was zu viel Wucht und Freiheit und Zauber besitzt, um auf den dünnen Grat, den die Leute der Wirklichkeit zubilligen, gequetscht zu werden. Das Fantastische ist für die Leute ersponnen und erschwindelt. Für Edgar aber lässt es sich vom Wirklichen nicht trennen, so wenig wie sich entscheiden lässt, ob in den Bergen da draußen ein weißer, schlafender Drache haust oder ein naturwissenschaftliches Phänomen. Beides, denkt Edgar. Und etliches andere. Aber da wird es den Leuten dann zu viel, und sie pochen auf ihren schmalen, pfeilgeraden Grat.
Die Leute – ehrlich gestanden, hat Edgar mit denen ein Problem. Hier im Zug verspeisen sie Wurstsemmeln, die, wenn hineingebissen wird, ein schmatzendes Geräusch von sich geben, und versprühen Speicheltropfen und Krumen beim Ereifern:
»Sie auch unterwegs nach Garmisch?«
»Ja, ja, ein reizendes Fleckchen und früher so nett zum Erholen. Aber heutzutage weiß ein friedlicher Bürger ja nirgendwo mehr, woran er eigentlich ist.«
Edgar hat sich zum Lesen ein Buch mitgebracht, Rudolf SteinersMenschenrätsel, aber hier im Abteil mag er es nicht auspacken. Als könnte das Buch sich ebenso wie er vor den Leuten mit den Wurstsemmel-Geräuschen fürchten.
Zwischen Menschen und Leuten möchte er manchmal gern eine Trennlinie zeichnen, hinter die er sich zurückziehen könnte, weil er die einen versteht und die anderen nicht. Vielleicht versteht er auch beide nicht, aber unter den Menschen wagt er zumindest, sich zu bewegen. Er gilt als gesellig. »Na, alter Salonlöwe«, begrüßt ihn sein Bruder Helmuth, der selbst einer ist. Mit ihm zusammen oder allein zieht er durch Künstlerkneipen, Vernissagen, Atelierfeste, weil Gespräche mit Menschen ihn befeuern, auch wenn ihm vor den Leuten graut. Von Menschen fühlt er sich angezogen. Von manchen so sehr, dass es ihm zur Sucht wird, dass er sich an ihre Fersen heften muss wie ein hechelnder Hund an eine Spur.
Elis. Elis.
Ihr Name – auf der zweiten Silbe betont – rattert in seinem Kopf wie der Rhythmus, den der Zug hält:Ra-tam, ra-tam, E-lis, E-lis. Elis ist so sehr Mensch, wie die Berge, die vor dem Zugfenster aufblitzen, Berge sind. An denen lässt sich nicht rütteln, und an Elis auch nicht. Begegnet ist er ihr in der Hamburger Kunsthalle, in der AusstellungEuropäische Kunst der Gegenwart, in die sie mit ihrem klaren Kopf und ihren wachen Augen gekommen ist, um hinzusehen. Siebzehn Jahre alt. Andere werden siebzig, und ihre Augen kennen nichts als Schlaf.
Ihre Eltern hatten sich auch die Ehre gegeben, der Herr Kommerzienra