: Bertrand Russell
: Eroberung des Glücks Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung
: Suhrkamp
: 9783518760482
: 1
: CHF 12.00
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 174
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Da Buch hat nicht nur »Glück« zu seinem Thema, sondern ist selber ein Glücksfall. Russell war einer der Begründer des »logischen Positivismus«, einer deren die maßgeblich daran beteiligt waren, Philosophie zum ersten Mal auf den neuesten Stand von Wissenschaft und Logik zu bringen. Aber er hat sich nicht gescheut, über die allzu eng gezogenen Grenzen von Wissenschaftlichkeit hinweg an eine alte Tradition der Philosophie anzuknüpfen: daß sie den Menschen in den praktischen Belangen ihres Lebens etwas zu sagen habe.



<p>Bertrand Russell, geboren 1872 in Wales, studierte Mathematik in Cambridge. In seinen schriftstellerischen Tätigkeiten widmete er sich zunächst der Mathematik, später wandte er sich vermehrt philosophischen Themen zu. 1950 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Bertrand Russell verstarb 1970 in Wales.</p>

Erstes Kapitel
Was macht den Menschen unglücklich?


Tiere sind glücklich, solange sie gesund sind und nicht unter Futtermangel leiden. Auch den Menschen, so meint man, sollte es nicht anders gehen, wenigstens in den allermeisten Fällen. Doch wer unglücklich ist, wird sich heutzutage nicht als Ausnahme, sondern als einer von Unzähligen fühlen, wer glücklich ist, bei geringem Nachdenken feststellen, daß nicht viele unter seinen Freunden dasselbe von sich sagen können. Und haben wir unsern Bekanntenkreis an uns vorbeiziehen lassen, dann sollten wir die Kunst erlernen, auch in fremden Zügen zu lesen, empfänglich zu werden für die Stimmungen aller, mit denen unsere Tagesverrichtungen uns zusammenführen.

»Ein Mal in jedem Antlitz nehm’ ich wahr,

Ein Mal der Schwäche, Mal des Leids und Wehs«
sagt Blake. So verschieden sich auch das Unglück gebärden mag, wir begegnen ihm überall. Nehmen wir einmal an, wir wären in New York, dieser typischen modernen Weltstadt, und stellten uns während der Arbeitsstunden an einer lebhaften Straßenecke oder am Wochenende an einer der großen Durchfahrtsstraßen auf, oder wir sähen bei einem abendlichen Tanzvergnügen zu. Unser eigenes Ich haben wir für den Augenblick völlig ausgeschaltet, um die Persönlichkeiten der Fremden nach der Reihe von uns Besitz ergreifen zu lassen. Da werden wir finden, daß jede von diesen verschiedenen Menschengruppen ihre besonderen Sorgen hat. Bei der Masse der Arbeitenden weist eine übermäßige Spannung der Gesichtszüge vielfach auf Angst, auch merken wir diesen Leuten an, daß sie an schlechter Verdauung leiden, für nichts außer für den Existenzkampf Interesse aufbringen, unfähig zu jeder spielerischen Leichtigkeit sind und in keiner Weise um ihre Mitmenschen wissen.

Auf der breiten Autostraße sehen wir am Wochenende, wie Männer und Frauen, von denen alle vermögend, manche sehr reich sind, ihrem Vergnügen nachjagen –, eine Jagd, die bei allen im gleichen Tempo vor sich geht, nämlich in dem des langsamsten Wagens der langen Reihe. Die Straße ist vor Autos nicht zu sehen und die Umgebung deshalb nicht, weil jeder Seitenblick sogleich einen Unfall nach sich ziehen würde; alle Autoinsassen haben nur den einen Wunsch, den andern Wagen vorzufahren, was bei der überfüllten Fahrbahn natürlich unmöglich ist; schweifen ihre Gedanken einmal von diesem Wunsche ab – bei denen, die nicht selber lenken, kommt das gelegentlich vor –, dann fühlen sie sich gleich maßlos angeödet, und über ihre Züge legt sich ein Ausdruck kleinlichen Mißvergnügens. Ab und zu einmal sieht man eine Wagenladung voll farbiger Ausflügler, bei denen es vergnügt zugeht; durch ihr formloses Benehmen erregt sie aber sogleich den allgemeinen Unwillen und fällt gewöhnlich, weil die Sache mit einem Zusammenstoß endet, der Polizei in die Hände: Lebensfreude an freien Tagen verträgt sich nun einmal nicht mit dem Gesetz.

Oder man sehe sich die Menschen während einer Abendgesellschaft an! Alle kommen sie mit dem festen Willen, sich zu amüsieren, mit derselben Art gri