EINLEITUNG
DAS GEBET EINER GROSSMUTTER
Ich bin am Waldrand aufgewachsen. Mein Hinterhof war – bildlich gesprochen – ein Wald von vierzig Hektar. In Wirklichkeit war er viel größer. Er nahm, so weit meine jungen Augen sehen konnten, kein Ende, und ich wurde nie müde, ihn zu erkunden. Ich wanderte und wanderte, blieb stehen, um die Vögel zu beobachten, die Insekten, die Reptilien. Ich nahm Dinge auseinander. Ich zerrieb die Erde zwischen den Fingern, lauschte auf die Geräusche der Wildnis und versuchte, ihre Herkunft zu ergründen.
Und ich spielte. Aus Stöcken machte ich Schwerter, aus Steinen baute ich Burgen. Ich kletterte auf Bäume, schaukelte auf Ästen, ließ die Beine in tiefe Abgründe hängen und sprang von Stellen, von denen ich vermutlich nicht hätte springen sollen. Ich stellte mir vor, ich sei ein Astronaut auf einem weit entfernten Planeten. Ich tat, als sei ich ein Jäger auf Safari. Ich erhob die Stimme für die Tiere, als wären sie das Publikum in einem Opernhaus.
»Cuuuey!«, kollerte ich, was in der Sprache des Garigal-Volkes, das die Gegend ursprünglich bewohnt hatte, so viel wie »Komm her!« bedeutet.
Natürlich war ich mit alledem nicht der Einzige. In den nördlichen Außenbezirken von Sydney gab es eine Menge Kinder, die meine Liebe zu Abenteuern, Entdeckungen und Fantasie teilten. Bei Kindern rechnen wir damit. Wirwollen, dass sie auf diese Weise spielen.
Aber irgendwann sind sie natürlich für so etwas »zu alt«. Dann wollen wir, dass sie in die Schule gehen. Später wollen wir, dass sie arbeiten gehen. Dass sie einen Partner finden, Geld sparen, ein Haus kaufen.
Denn Sie wissen ja, die Uhr tickt.
Die Erste, die mir sagte, dass es so nicht sein muss, war meine Großmutter. Oder vermutlich sagte sie es mir nicht, sondern sie zeigte es mir.
Meine Oma war in Ungarn aufgewachsen. Im Sommer war sie im kühlen Wasser des Plattensees geschwommen und an seinem Nordufer von einem Urlaubshotel aus, in dem Schauspieler, Maler und Dichter abstiegen, im Gebirge gewandert. In den Wintermonaten hatte sie in einem Hotel in den Bergen von Buda gearbeitet, bevor die Nazis das Haus übernahmen und zur zentralen Kommandostelle der SS machten.
Zehn Jahre nach dem Krieg, in der Anfangszeit der sowjetischen Besetzung, schlossen die Kommunisten nach und nach die Grenzen. Als ihre Mutter versuchte, illegal nach Österreich zu reisen, wurde sie erwischt, inhaftiert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz danach starb sie. Während des Ungarnaufstandes von 1956 schrieb und verbreitete meine Großmutter in den Straßen von Budapest kommunistenfeindliche Flugblätter. Nachdem die Revolution niedergeschlagen war, nahmen die Sowjets Zehntausende von Dissidenten fest, und meine Großmutter flüchtete mit ihrem Sohn – meinem Vater – nach Australien; weiter, so ihre Überlegung, konnte sie sich nicht von Europa entfernen.
Meine Oma setzte nie wieder einen Fuß auf europäischen Boden, aber sie hatte Ungarn in jeder Hinsicht mitgebracht. Wie man mir erzählte, war sie in Australien eine der ersten Frauen, die einen Bikini trug, und wurde deshalb des Bondi-Strandes verwiesen. Jahrelang lebte sie ganz allein in Neuguinea, das noch heute eine der ursprünglichsten Regionen der Erde ist.
Obwohl meine Großmutter von aschkenasischen Juden abstammte und selbst eine protestantische Erziehung genossen hatte, war sie ein sehr säkularer Charakter. Die Entsprechung zum Vaterunser war bei uns das Gedicht »Jetzt sind wir sechs« des englischen Dichters Alexander Milne. Es endet mit den Worten1:
Doch nun bin ich sechs
und bin schlau – unbeschreiblich.
Und sechs find ich prima.
Ich glaube, sechs bleib ich.
Das Gedicht las sie meinem Bruder und mir immer und immer wieder vor. Sechs Jahre, so sagte sie uns, sei das allerbeste Alter, und sie gab sich alle Mühe, auch ihr eigenes Leben im Geist und mit dem Staunen eines sechsjährigen Kindes zu führen.
Auch als wir noch ganz klein waren, wollte meine Großmutter nicht, dass wir sie »Großmutter« nennen. Auch den ungarischen Begriff »nagymama« und andere liebevolle Benennungen wie »Oma« oder »Nana« mochte sie nicht.
Für uns Jungen und alle anderen war sie einfach »Vera«.
Vera brachte mir das Autofahren bei, wobei ich über alle Spuren schlingerte und ausscherte und auf jede Musik »tanzte«, die gerade im Autoradio lief. Sie brachte mir bei, meine Jugend zu genießen, das Gefühl des Jungseins auszukosten. Erwachsene, so sagte sie, würden die Dinge immer ruinieren. Werde nicht erwachsen, sagte sie. Werde nie erwachsen.
Bis weit über ihr sechzigstes und sogar siebzigstes Lebensjahr hinaus war sie das, was man »im Herzen jung geblieben« nennt. Mit Freunden und Familie trank sie Wein. Sie liebte gutes Essen, erzählte großartige Geschichten, half den Armen, Kranken und weniger Begünstigten. Sie tat, als würde sie Symphonien dirigieren, und lachte bis spät in die Nacht. Nach praktisch allen Maßstäben führte sie »ein gutes Leben«.
Und doch tickte die Uhr.
Mit Mitte achtzig war Vera nur noch ein Schatten ihres früheren Ichs, und die letzten zehn Jahre ihres Lebens mitanzusehen war schwer. Sie war gebrechlich und krank. Immer noch hatte sie so viel Weisheit, dass sie darauf bestand, ich solle meine Verlobte Sandra heiraten, aber die Musik machte ihr keine Freude mehr, und s