: Louise Erdrich
: Die Wunder von Little No Horse Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841218346
: 1
: CHF 12.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Vater Damien Modeste sich ganz in den Dienst seines geliebten Stammes der Ojibwe im abgelegenen Reservat Little No Horse gestellt. Nun da sein Leben zu Ende geht, muss er fürchten, dass das große Geheimnis seines Lebens doch noch ans Licht kommen könnte: er ist in Wahrheit eine Frau. In ihrem bislang nichts ins Deutsche übertragenen Meisterwerk erkundet Louise Erdrich das Wesen der Zeit und den Geist einer Frau, die sich gezwungen fühlte, sich selbst zu verleugnen, um ihrem Glauben dienen zu können.

Ein Buch mit Herz, großartig erzählt. 

»Lus ig und elegisch, absurd und tragisch.« New York Times.



Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Sie erhielt den National Book Award, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag ist ihr Roman 'Der Gott am Ende der Straße' und im Aufbau Taschenbuch ihre Romane 'Liebeszauber', 'Die Rübenkönigin', 'Der Club der singenden Metzger', 'Der Klang der Trommel', 'Solange du lebst', 'Das Haus des Windes' und 'Ein Lied für die Geister' lieferbar. Gesine Schröder übersetzt seit 2007 aus dem Englischen und hat u.a. Jennifer duBois und Curtis Sittenfield ins Deutsche übertragen. Nach Aufenthalten in den USA, Australien, Indien, England und Kanada lebt sie in Berlin.

Prolog
Der alte Priester
1996


Auf den Schattenseiten der Hügel und Senken des Reservats lag Raureif, doch die Morgenluft war von milden südlichen Winden beinahe warm. Father Damien erlebte seine besten Stunden spätabends oder kurz nach dem Erwachen, wenn er nur einen Becher heißes Wasser zu sich genommen hatte. Er war alt, sehr alt, aber geistig rege, solange er nichts essen musste. In der museumsreifen Soutane saß er in seinem Lieblingssessel und schaute auf den Friedhof hinaus, der sich gleich hinter dem verwilderten Garten seines Altersruhesitzes über einen flachen Hügel erstreckte. Seine Gedanken durchdrangen die klare Luft, das Gewirr der Äste, die über den Grabsteinen wogten, die Wolken, den Himmel, ja sogar die Zeit – straff und flink sprangen sie aus ihm hervor, einer nach dem anderen, bis er sein winziges Frühstück aus Toastbrot und Kaffee einnahm. Danach erschlaffte sein Verstand. Er pflegte dann wieder ein wenig zu dösen, oft bis in seinen Mittagsschlaf hinein.

In letzter Zeit wurde er oft von Schlaftrunkenheit befallen, meist vor dem Abendessen und manchmal, was am peinlichsten war, während er samstags die Nachmittagsmesse las. Wenn er wieder ganz wach war, zog er sich den Abend über an seinen Schreibtisch zurück und verbat sich dort jegliche Störung. Dann verfasste er glühende politische Streitschriften, strenge geistliche Sendschreiben, Beobachtungen über das Leben im Reservat für Geschichtszeitschriften sowie Gedichte. Zudem brachte er lange Texte zu Papier, die er als Berichte bezeichnete und an den Papst verschickte – seit 1912, seit Beginn seiner Amtszeit im Reservat, hatte er jeden einzelnen Heiligen Vater angeschrieben. Bei dieser Arbeit trank Father Damien stets ein paar Schlückchen Wein, und bis es Zeit wurde, sich schlafen zu legen, war er meist »befriedet«, wie er es nannte. Diesmal allerdings zeigte der Wein die gegensätzliche Wirkung – er verschärfte seinen Eifer noch, statt ihn zu dämpfen, trieb die Spitze seines billigen Füllfederhalters schneller über das Papier und bündelte seine Gedanken.

An Seine Heiligkeit den Papst

Vatikan, Rom, Italien

Letzter Bericht von den Wundern in Little No Horse

Niedergeschrieben von

Father Damien Modeste

Eure Heiligkeit, ich spreche aus unerhörter Ferne zu Ihnen. Ich habe so viel zu erzählen und so wenig Zeit. Mich hat in der letzten Zeit eine entsetzliche Schwere befallen. Das muss wohl bedeuten, dass nun doch noch die Stunde meines Todes naht; deshalb diese Vertraulichkeit und diese Hast. Ich hoffe, Sie können mir meine Unbeholfenheit vergeben, denn zum Korrigieren bleibt mir keine Zeit!

Meine Handschrift ist zum Verzweifeln zittrig, aber hoffentlich dennoch lesbar.

Ich weiß nicht einmal, ob meine bisherigen Berichte bei Ihnen angekommen sind – die Korrespondenz reicht insgesamt bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zurück, doch die neuesten gingen naturgemäß an Sie. In meine Briefe sind Zeugnisse aus verschiedensten Quellen eingeflossen, unter anderem aus Beichten. Einmal habe ich die Identität einer Mörderin geheim gehalten, eine Seelenqual, die mich nochheute peinigt. Aeternus Pater, es muss genug Material in Ihrem Besitz sein, um mehrere Tresorr