Prolog
Der alte Priester
1996
Auf den Schattenseiten der Hügel und Senken des Reservats lag Raureif, doch die Morgenluft war von milden südlichen Winden beinahe warm. Father Damien erlebte seine besten Stunden spätabends oder kurz nach dem Erwachen, wenn er nur einen Becher heißes Wasser zu sich genommen hatte. Er war alt, sehr alt, aber geistig rege, solange er nichts essen musste. In der museumsreifen Soutane saß er in seinem Lieblingssessel und schaute auf den Friedhof hinaus, der sich gleich hinter dem verwilderten Garten seines Altersruhesitzes über einen flachen Hügel erstreckte. Seine Gedanken durchdrangen die klare Luft, das Gewirr der Äste, die über den Grabsteinen wogten, die Wolken, den Himmel, ja sogar die Zeit – straff und flink sprangen sie aus ihm hervor, einer nach dem anderen, bis er sein winziges Frühstück aus Toastbrot und Kaffee einnahm. Danach erschlaffte sein Verstand. Er pflegte dann wieder ein wenig zu dösen, oft bis in seinen Mittagsschlaf hinein.
In letzter Zeit wurde er oft von Schlaftrunkenheit befallen, meist vor dem Abendessen und manchmal, was am peinlichsten war, während er samstags die Nachmittagsmesse las. Wenn er wieder ganz wach war, zog er sich den Abend über an seinen Schreibtisch zurück und verbat sich dort jegliche Störung. Dann verfasste er glühende politische Streitschriften, strenge geistliche Sendschreiben, Beobachtungen über das Leben im Reservat für Geschichtszeitschriften sowie Gedichte. Zudem brachte er lange Texte zu Papier, die er als Berichte bezeichnete und an den Papst verschickte – seit 1912, seit Beginn seiner Amtszeit im Reservat, hatte er jeden einzelnen Heiligen Vater angeschrieben. Bei dieser Arbeit trank Father Damien stets ein paar Schlückchen Wein, und bis es Zeit wurde, sich schlafen zu legen, war er meist »befriedet«, wie er es nannte. Diesmal allerdings zeigte der Wein die gegensätzliche Wirkung – er verschärfte seinen Eifer noch, statt ihn zu dämpfen, trieb die Spitze seines billigen Füllfederhalters schneller über das Papier und bündelte seine Gedanken.
An Seine Heiligkeit den Papst
Vatikan, Rom, Italien
Letzter Bericht von den Wundern in Little No Horse
Niedergeschrieben von
Father Damien Modeste
Eure Heiligkeit, ich spreche aus unerhörter Ferne zu Ihnen. Ich habe so viel zu erzählen und so wenig Zeit. Mich hat in der letzten Zeit eine entsetzliche Schwere befallen. Das muss wohl bedeuten, dass nun doch noch die Stunde meines Todes naht; deshalb diese Vertraulichkeit und diese Hast. Ich hoffe, Sie können mir meine Unbeholfenheit vergeben, denn zum Korrigieren bleibt mir keine Zeit!
Meine Handschrift ist zum Verzweifeln zittrig, aber hoffentlich dennoch lesbar.
Ich weiß nicht einmal, ob meine bisherigen Berichte bei Ihnen angekommen sind – die Korrespondenz reicht insgesamt bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zurück, doch die neuesten gingen naturgemäß an Sie. In meine Briefe sind Zeugnisse aus verschiedensten Quellen eingeflossen, unter anderem aus Beichten. Einmal habe ich die Identität einer Mörderin geheim gehalten, eine Seelenqual, die mich nochheute peinigt. Aeternus Pater, es muss genug Material in Ihrem Besitz sein, um mehrere Tresorr