An der Goldküste
Drei Tage später fahre ich in aller Herrgottsfrühe mit der S-Bahn nach Darmstadt, um dort zur Anknüpfung neuer Liebesbande in den Zug nach Zürich zu steigen. Aus dem dumpf dösenden Heer der Berufspendler sticht eine hellwach um sich blickende Frau in einem taillierten roten Mantel hervor, deren volles Lippenpaar auf die Farbe ihrer Oberbekleidung abgestimmt ist. Ich finde ihre Erscheinung so aufregend, dass ich mein morgengraues Gesicht und meine gute Kinderstube vergesse und sie wie ein Bauerntölpel anstiere, ohne den Blick zu senken. Weil sich ihre Züge nicht verhärten, und ich gar glaube, auf ihnen den Anflug eines Lächelns wahrzunehmen, versinke ich in einem Sekundentagtraum, in dessen Verlauf ich mir ein verkürztes Verfahren ausmale: Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah! In einem Film von Ken Russell sitzt der Komponist Pjotr Iljitsch Tschaikowski mit einer begehrenswert wirkenden, möglicherweise zu jedem Abenteuer bereiten Frau allein in einem durch die schneeverwehten Weiten Russlands stampfenden Zug und kommt nicht in die Gänge, weil er der Befriedigung seiner primitiven Instinkte entsagt und stattdessen seine verquältePathétique zu Papier bringt nach deren Aufführung er vor Erschöpfung stirbt. Als ich denke, dass ich niemals so begabt oder so naiv sein würde, die tödliche Hervorbringung eines von der Nachwelt goutierten Kunstwerks der Vereinigung mit einer lebendigen Frau vorzuziehen, vollzieht der Lokführer vor der Haltestelle Neu Isenburg eine Notbremsung, die mich aus dem Gleichgewicht bringt und zu Boden wirft. Fällt ein feuriger junger Mann auf die Knie, um der hold errötenden Dame seines Herzens ein Heiratsgesuch zu unterbreiten oder sie wegen eines wie auch immer gearteten Fauxpas um Verzeihung zu bitten, hat das nicht nur eine gewisse, wie aus der Zeit gefallene Rosamunde-Pilcher-Grandezza, sondern es sieht auch gut aus und rührt das Publikum zu Tränen. Als ich, ein nicht mehr ganz so junger Mann, während der Rush-Hour in der überfüllten S-Bahn zu Boden krache wie ein morsches Stück Holz, und die Frau in Rot dem hilflos vor ihren Füßen herumzappelnden Gregor Samsa nicht nur auf die wackeligen Beinchen hilft, sondern ihm unter den Augen der peinlich berührten Mitreisenden mit einer mildtätigen Pfadfindergeste ihren Sitzplatz anbietet, wird der Wunsch übermächtig, mich augenblicklich in Luft aufzulösen.
Dass der Zugwechsel keine Erleichterung bringt und die Beschämung auch imEC-Helvetia in mir nachwirkt wie ein langsam, aber stetig wirkendes Gift, kann ich daran festmachen, dass mir zur Schweiz alles einfällt, nur nichts Gutes. Max Frisch lege ich zur Last, dass er für mein Empfinden die zerbrechliche Ingeborg Bachmann auf dem Gewissen hatte. Friedrich Dürrenmatt malträtiert seit 70 Jahren Gymnasiasten mit seinen verquast moralisierendenPhysikern, das Schwyzertütsche klingt in meinen Ohren wie eine zeitlupenhaft zerdehnte, aus dem oberrheinischen Baden-Württemberg eingeschleppte Entzündung des Rachenraums, und 1979 wurden mir in Lugano für eine nußschalengroße Portion Pilzrisotto und ein Glas Leitungswasser sage und schreibe 22 Franken abgeknöpft.
Nach landläufiger Definition ist der Griesgram ein engstirniger, nachtragender, rechthaberischer und vorurteilsbehaftete