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Sie sind tot. Alle sind tot. Sie liegen in ihren Gräbern auf dem Dorffriedhof. Auch mein Vater liegt dort. Seit gestern. Ruht, wie sein Grabstein sagt. Der Grabstein, neu abgeschliffener, verwitterter Marmor, auf dem bereits der Name meiner Mutter steht. Der Name und das Geburtsjahr. Den Platz für das Sterbejahr hat der Steinmetz frei gelassen. Sie lebt ja noch. Sie und ich: Wir leben noch. Wir sind die letzten der Familie. Denn meine Tochter zählt nicht. Sie ist bei meiner Frau.
Ich werde mich gleich von meiner Mutter verabschieden. Sie wird denken, was sie immer denkt: Es ist das letzte Mal, dass sie mich sieht. Bis zum nächsten Mal wird sie tot sein, denkt sie. Und so ist jeder Abschied ein Heftromanabschied.
Meine Mutter hat die halbe »Gartenlaube« gelesen. Eugenie Marlitt. Nataly von Eschtruth und Hedwig Courths-Mahler dazu. Und sie hat eine Menge daraus gelernt. So macht sie aus jedem Tagesereignis eine weitere Komponente des großen sentimentalen Plots, der das Leben ausmisst. Schlägt immer neue Kapitel des Frauenschicksals auf. Manchmal denke ich, alles, was sie sagt, ist das Ergebnis dieser unentwegten Lektüre von Spalten, von Zeitungspapier. Von Heften, die gar nicht wie Bücher aussehen, und damit an Überzeugungskraft gewinnen. Als wären es Zeitungsmeldungen. Nachrichten von der Liebe. Alles, was aus ihrem Mund kommt, ist für mich gewissermaßen ein Zitat der Marlitt, die wohl für einen großen Teil ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen war. Meine Mutter ist kerngesund.
Ich mache die Tür hinter mir zu, sie weint. Wegen Karls Tod, wegen meiner Abreise. Ich bringe mein Gepäck zum Auto. Sie weint und lebt. Sie wird steinalt, älter als ich. Sie wird mich überleben. Sie und der Mühlstein vor dem Haus. Der uralte Mühlstein aus der Wassermühle, den mein Vater dort abgelegt hat, als Wahrzeichen und Sitzbank. Karl hat zwar nie eine Mühle besessen, aber er leistete sich dafür einen Mühlstein. Einen Stein aus einer aufgegebenen Mühle. Kein Mensch braucht mehr einen Mühlstein. Kaum einer weiß noch, was ein Mühlstein ist. Es ist alles Geschichte, Industriegeschichte. Der nutzlose Mühlstein wurde zur kalten Sitzgelegenheit. Der Müller, mein Vater, ist tot.
Der Mühlstein liegt unter den Pflaumenbäumen. Die reifenden Pflaumen leuchten dunkelblau zwischen dem Blattwerk. Auf das Fleisch der Pflaume beißen, den Kern ausspucken. Einen flachen roten Kern. Spiel. Den Kern in der Mundhöhle behalten, am Gaumen entlangführen, unauffällig in die Backentasche versenken. Verzweifeltes Spiel: Wer hat die meisten Kerne im Mund? Reife Pflaumen liegen im Gras. Ein Ball, der darüber rollt. Ferne Stimmen. Kinderstimmen. Finde sie, wenn du kannst.
Ich fahre heute noch. Heute noch fahre ich zurück. In den milden Septemberabend hinein. Zurück nach Deutschland. In zwei Stunden werde ich an der Grenze sein. Um diese Zeit ist dort wenig los. Das weiß ich aus Erfahrung. Wenn ich Glück habe, kann ich vor der Nacht in Budapest sein.
»Bleib doch noch«, sagt sie mit schwacher Stimme. Mit gekonnt schwacher Stimme, denke ich mir. Ich habe gepackt. Wir sitzen am Tisch. Ich esse. Schafskäse, Wurst, Tomaten, Weißbrot. Tomaten mit dem Geschmack, wie sie ihn in Deutschland nicht haben