: Clarice Lispector
: Benjamin Moser
: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau
: Penguin Verlag
: 9783641241681
: 1
: CHF 5.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.' Orhan Pamuk
Idalina sucht einen Weg zwischen Vernunft und Leidenschaft, Luísa ringt um innere Stärke und Tuda um ein Leben ohne Therapeuten. In Kurzprosa von beispielloser Originalität lotet Clarice Lispector die Paradoxien des Daseins und die Grenzen des Sagbaren aus: Wahnsinn wird zu Weisheit, Angst zu Mut, wenn sie das Innerste ihrer nur auf den ersten Blick alltäglichen Figuren - meist Frauen - nach außen kehrt. Poetisch und tiefgründig, gleichen ihre Erzählungen flirrenden Träume von einer geheimnisvollen Welt... International als einer der Höhepunkte brasilianischer Literatur bekannt, ist Lispectors Kurzprosa im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken. Der vorliegende Band mit vierzig teils erstmals ins Deutsche übertragenen Geschichten verspricht eine aufregende Begegnung mit der suggestiven Kraft ihrer Sprachkunst.

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

Der Triumph


Die Uhr schlägt neunmal. Ein kräftiges, klangvolles Läuten, gefolgt von einem sanften Nachhall, einem Echo. Dann Stille. Im Garten breitet sich der Fleck hellen Sonnenlichts allmählich über den Rasen aus. Er steigt die rote Hausmauer empor, lässt die Kletterpflanze erglänzen in tausend Lichtern aus Tau. Dann findet er eine Öffnung, das Fenster. Dringt hindurch. Und bemächtigt sich des Zimmers, der Wachsamkeit des leichten Vorhangs zum Trotz.

Luísa liegt weiterhin reglos da, auf den zerwühlten Laken ausgestreckt, die Haare über das Kissen gegossen. Ein Arm hier, der andere dort, von Mattheit gekreuzigt. Die Hitze der Sonne und ihre Helligkeit füllen den Raum. Luísa blinzelt. Sie runzelt die Stirn. Verzieht den Mund. Schlägt endlich die Augen auf und bleibt mit dem Blick an der Decke hängen. Allmählich dringt der Tag in ihren Körper ein. Sie hört ein Geräusch von trockenen Blättern, auf die getreten wird. Schritte in der Ferne, zart und eilig. ›Ein Kind, das die Straße entlangläuft‹, denkt sie. Erneut Stille. Einen Moment lang erfreut sie sich daran. Die Ruhe ist umfassend, es ist geradezu totenstill. Natürlich, das Haus liegt abseits, ganz für sich. Aber … was ist mit den vertrauten Vormittagsgeräuschen? Dem Klappern von Schritten, dem Gelächter und Geschirrklimpern, die die Ankunft des Tages in ihrem Haus verkünden? Langsam kommt ihr der Gedanke, dass sie den Grund für die Stille kennt. Doch sie schiebt ihn hartnäckig beiseite.

Plötzlich werden ihre Augen groß. Luísa findet sich auf dem Bett sitzend wieder, am ganzen Körper erschauernd. Sie blickt mit den Augen, dem Kopf, mit allen Nerven zum anderen Bett im Zimmer. Es ist leer.

Sie dreht das Kissen hochkant, lehnt sich zurück, den Kopf geneigt, die Augen geschlossen.

Also ist es wahr. Sie lässt den vorigen Abend Revue passieren, dazu die Nacht, die qualvolle, lange Nacht, die dem Abend ­folgte, bis in den Morgen hinein. Gestern Abend ist er fortgegangen. Er hat die Koffer mitgenommen, die Koffer, die erst vor zwei Wochen so festlich eingetroffen waren, mit Aufklebern aus Paris, Mailand. Auch den Diener, der mit ihnen eingezogen war, hat er mitgenommen. Damit war die Stille im Haus erklärt. Sie war seit seiner Abreise allein. Es hatte Streit gegeben. Sie wortlos, ihm gegenüber. Er, der feine, überlegene Intellektuelle, der herumschrie, ihr Vorwürfe machte, mit dem Finger auf sie ­zeigte. Dazu dieses Gefühl, das sie schon von früheren Auseinandersetzungen kannte: Wenn er fortgeht, sterbe ich, ich sterbe. Sie konnte seine Worte noch hören.

»Du, du hältst mich nur fest, du machst mich kaputt! Behalt deine Liebe, gib sie, wem du willst, irgendwem, der nichts anderes zu tun hat! Verstanden? Ja! Seit ich dich kenne, kriege ich nichts mehr zuwege! Ich fühle mich angekettet. An deine Fürsorge, deine Zärtlichkeiten, deine übertriebene Aufmerksamkeit, an dich! Ich verabscheue dich! Stell dir das vor, ich verabscheue dich! Ich …«

Solche Ausbrüche waren häufig. Die Drohung, dass er gehen würde, stand immer im Raum. Luísa durchlief bei diesen Worten eine Veränderung. Sie, die so würdevoll war, so ironisch und selbstsicher, flehte ihn an zu bleiben, derart blass und verrückt im Gesicht, dass er bei anderen Gelegenheiten eingelenkt hatte. Und das Glück überspülte sie so intensiv und klar, dass es aufwog, was ihr selbst nie als Demütigung erschien, trotz seiner ironischen Argumente, doch auch die hörte sie nicht. Diesmal hatte er sich, wie auch sonst, fast grundlos geärgert. Luísa, behauptete er, habe ihn in dem Moment unterbrochen, als ihm eine neue Idee kam, ein Geistesblitz. Sie habe die Inspiration in dem Augenblick gestört, da