Kapitel 2
Der Bindungsreigen – ein schwieriger Tanz
Bindung will gelernt sein
Zurzeit erleben wir eine heftige Kontroverse über die Frage: Kinderkrippen – ja oder nein? »Wie viel Mutter braucht das Kind?«, heißt beispielsweise ein Aufmacher imSpiegel. Da werden Wissenschaftler aus allen Himmelsrichtungen maßgeschneidert zitiert, um zu klären: Braucht das Kind in den ersten drei Jahren die Bindung zu einer festen Bezugsperson oder nicht? Wie fit ist ein Kind im Alter von sechs bis zwölf Monaten? Kommt es auch ohne die Eltern klar? Der Begriff »Bindung« klingt in diesen Streitgesprächen so, als handele es sich dabei um ein pädagogisches Regelwerk, das jeder vernünftige Mensch beherrscht. Schon die Frage, so glaube ich, führt in die Irre. Nicht, wie viel Mutter, sondern die wichtige Frage heißt: Was genau von der Mutter braucht ein Kind? Und was ist das Wesen von Bindung?
Wenn ich all die Leitartikel und Talkshows verfolge, scheint es in diesem Zusammenhang ein unaussprechliches Wort zu geben: Liebe. Liebe wird von der öffentlichen Meinung offensichtlich als romantisches Relikt gewertet. Sie passt nicht in die Landschaft, die auf Funktionieren ausgerichtet ist. Aber sie ist die einzig tragfähige Grundlage, die ein Kind braucht, um vertrauensvoll in die Welt zu gehen; auch in die betreute Welt der Kinderkrippe. Das Wesen der Bindung zwischen Menschen ist die Liebe.
Liebe heißt, wachsen dürfen und verbunden sein
Gerald Hüther, Professor der Neurobiologie in Göttingen, hat mir in einem Gespräch eine der, wie ich finde, besten Definitionen von Liebe gegeben. Sie beschreibt, worum es zwischen Mutter und Kind und zwischen Menschen grundsätzlich geht:
»Jeder Mensch hat bereits in den neun Monaten vor der Geburt mit der Mutter die Erfahrung gemacht: Ich bin in Verbindung und ich wachse jeden Tag ein Stück über mich hinaus. Das ist eine fundamentale Erfahrung, die uns unser ganzes Leben lang begleitet. Es geht in der menschlichen Begegnung immer darum, wachsen zu dürfen und in Verbindung zu sein. Das sind die beiden Grundbedürfnisse, auf denen alles Gute gedeiht. Die einzige Möglichkeit, mit der man das lernen kann, ist die Liebe.
Liebe wäre dann so zu beschreiben: Es ist das Gefühl, dem anderen zu wünschen, dass er sich ganz eng verbunden fühle und über sich hinauswachsen möge. Wachsen und verbunden sein, das ist der optimale Zustand. Kinder, die das erlebt haben, sind in ihren beiden Grundbedürfnissen psychisch gesättigt. Sie bleiben offen für die Welt, bleiben neugierig, erschließen sich die Welt und können Gefühle wie Dankbarkeit, Zuneigung, Vertrauen entwickeln.
Kinder, die die Erfahrung machen mussten, dass sie entweder wachsen konnten, aber nur auf Kosten der Verbindung, oder, dass sie verbunden waren, aber nur auf Kosten ihres Bedürfnisses auf Wachstum, leiden Mangel. Ein zentrales Bedürfnis ist nicht gestillt, nicht gesättigt. Das Ergebnis ist: Sie brauchen Notlösungen.«
Bindung will gelernt sein
Dieses Buch würde ich nicht schreiben, wenn das mit der Liebe zwischen Mutter und Kind landauf, landab so einfach wäre.
Bindung ist eben kein Regelwerk, das jeder zu buchstabieren weiß, und schon gar nicht die Liebe. Und das, glaube ich, wird in den Debatten übersehen. Die Liebesfähigkeit ist vielleicht die fragilste Angelegenheit