Laura Benedict
Der Eindringling
Psychothriller
erscheint am 01.10.2019
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Clewing
Eins
Der Kalksteinvorsprung, auf dem Michelle Hannon mit dem Kopf aufschlug, war schon dreitausend Jahre lang fester Bestandteil des Abhangs gewesen, bevor dort Bäume wuchsen, die höher waren als eine mickrige Kiefer. Damals war er mächtiger und um einiges breiter, aber Stürme und Erdbeben kamen, Gelbe Eiche und Butternuss gruben ihre Wurzeln tief in den Hang hinein und ließen den großen Felsen bersten. Teile platzten ab und stürzten in das Flüsschen unten in der Schlucht. Die meisten dieser alten Bäume waren inzwischen verschwunden, vor langen Jahren dem Holzeinschlag geopfert. Michelles gekrümmter, zerschundener Körper lag zwischen Gestein und Erdboden eingeklemmt, als hätte sie im Schatten des Felsens Schutz gesucht. Die Gedanken in einem Blinzeln gefangen, das langsame Schließen des unversehrten Auges, und sie war wieder am Anfang ihres Lebens, getröstet vom gleichmäßigen Herzschlag ihrer Mutter. Ein Moment stillen Entzückens. Ohne Felsen, der sich nicht vom Fleck bewegen ließ, ohne Blut im Gesicht, ohne Schmerzen, die durch den zerstörten Körper wallten. Nichts war mehr wichtig. Gar nichts mehr. Der Moment aber, der den Bruchteil einer Sekunde und zugleich eine Ewigkeit währte, ging zu Ende, und mit jedem verzweifelten Schlag ihres Herzens schwand das Entzücken dahin. Der Tod kam, sie zu holen. Sie konnte ihn hören, wie er sich durch die Blätter heranpirschte, die den Abhang bedeckten, begierig darauf, ihr seinen kalten Atem ins Ohr zu hauchen.
Ihr Auge schloss sich.
Zwei
Der Haustürschlüssel in Kimbers Hand lässt sich einfach nicht im Schloss drehen: Sooft sie ihn herauszieht und wieder hineinschiebt, sie kann sich keinen Reim auf das machen, was hier gerade vor sich geht. Verzweifelt versucht sie es mit den anderen Schlüsseln am Bund. Mit denen für die Garage, das Haus ihrer Mutter und denen zum Sender, bei dem sie arbeitet, für den Fall, dass sie den Verstand verloren und vergessen hat, welcher Schlüssel wo passt. Jeder weitere Versuch mit einem anderen Schlüssel lässt ihre Bewegungen hektischer werden, bis ihr schließlich die Hand wehtut und ihr eine leise, beharrliche Stimme im Hinterkopf signalisiert, dass vermutlich keiner der Schlüssel funktionieren wird.
Ungläubig schaut sie auf die Tür. Dann wirft sie einen Blick über die Veranda, auf die von Bäumen gesäumte Straße. Weit und breit ist niemand zu sehen. Ein ganz normaler Tag, der ruhig und friedvoll in den Abend überzugehen scheint, genauso, wie es sein sollte.
Moment mal. Erlaubt sich da jemand einen Scherz mit mir?
Hält sich hier irgendwo jemand versteckt und beobachtet sie? Lacht sie aus?
Sie lässt ihre Laptoptasche von der Schulter gleiten, setzt sie neben der kleinen Reisetasche zu ihren Füßen auf dem Boden ab und schiebt sich den dunkelblonden Bob mit der Sonnenbrille aus der Stirn.
Sie tritt einen Schritt zurück und betrachtet die vertrauten grünen und orangefarbenen Glasscheiben über dem Türsturz. Es ist ohne Zweifel die Tür, die sie hinter sich zugezogen – und abgeschlossen – hat, als sie das Haus vor vier Tagen verlassen hat. Dasselbe polierte Mahagoni, der Shakerstil, mit seinen klaren Linien passend zum übrigen Bungalow im Craftsman-Stil. Dieselben kleinen Kratzer, die der kleine Hund von nebenan hinterlassen hat. Gleich daneben hängt die Zedernholzschaukel unbewegt in der trägen Augustdämmerung. Sie betrachtet das nutzlose Schlüsselbund in ihrer Hand und fühlt sich verloren und hilflos. Dann legt sie die Hand über die Augen, drückt das Gesicht gegen ein Frontfenster und stellt erleichtert fest, dass das Licht in der Küche, das sie am Donnerstagnachmittag angelassen hat, das einzige Licht ist, das brennt.
Immerhin.
Fühlt sich ein leeres Haus nicht auch leer an? Dieses Haus –ihr Haus – aber nicht. Der Gedanke, dass jemand da drin ist, packt sie und lässt sie nicht los.
»Hallo? Ist da jemand?« Energisch klopft sie an die Scheibe, bis die Knöchel schmerzen. »He! Hallo?«
Zum endlosen Gesang der Zikaden gesellt sich das Dröhnen eines Rasenmähers irgendwo in der Nachbarschaft. In ihrem Haus ist es mucksmäuschenstill.
Sie klingelt einmal, zweimal, fünfmal. Nichts.
Doch man kommt auch anders hinein.
Kimber verlässt die Veranda, geht über halb ins Erdreich versunkene Steinplatten zurück zur Einfahrt und stellt ihre Taschen neben ihrem Mini ab.
Auf dem Weg zum Garten beäugt sie misstrauisch die steile Betontreppe, die ein wenig verborgen neben dem Haus in den Keller hinabführt. Sie hat genügend Horrorfilme gesehen, um zu wissen, dass es unklug ist, sich dort Zugang zu verschaffen. Wie der Keller selbst befindet sich auch die Tür in einem wenig gepflegten Zustand. Sie ist von Spinnweben verhangen und macht ihr Angst. Sie hat sie nie geöffnet und auch nicht die Absicht, das zu tun.
Sie betastet mit einer Hand die Gesäßtasche ihrer Shorts und stellt beruhigt fest, dass sie das Handy dabeihat. Wenn wirklich jemand da drinne