: Jan Christophersen
: Ein anständiger Mensch
: mareverlag
: 9783866483736
: 1
: CHF 16.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 352
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Steen Friis ist studierter Philosoph und öffentlicher Intellektueller: Als Autor mehrerer Bestseller zu Fragen des Anstands wird er von der Presse zitiert, sobald die richtige Haltung zum aktuellen Weltgeschehen zur Debatte steht. In dieser Rolle fühlt Steen sich wohl - bis die Ereignisse weniger Tage all seine Werte infrage stellen. Mit seiner Frau und einem befreundeten Paar verbringt er ein Wochenende in seinem dänischen Inseldomizil. Man plaudert und geht gemeinsam in die Pilze, und ganz beiläufig erinnert seine Frau ihn an ein altes Versprechen: sich gegenseitig auch in der Liebe die größtmögliche Freiheit zu lassen. Noch bevor Steen sich über die ganze Tragweite dieses Gesprächs bewusst wird, geschieht ein Unglück, an dem er sich allein schuldig wähnt und das nicht nur sein Ego, sondern sein gesamtes Weltbild zu erschüttern droht.

Jan Christophersen, 1974 in Flensburg geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Sein Roman 'Schneetage' (mare 2009) wurde mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Roman 'Echo' (mare 2014). Jan Christophersen lebt mit seiner Familie bei Kappeln.

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Eins passierte nach dem anderen. Wie hätte es auch anders sein können? Die Gegenwart, in der wir uns befanden, wusste nicht, was nach ihr kam, und der Scheinwerfer der Erinnerung leuchtete noch nicht mit seinem voreingenommenen Licht die Szene aus. Erst geschah dies, dann das. Und in jenem Jetzt und Hier saßen meine Frau und ich nebeneinander im Auto. Zeit: ein Freitagvormittag Ende September, kurz vor zehn Uhr; Ort: der Parkplatz an unserem kleinen Inselhafen. Ein frühherbstlicher Windhauch wehte Salzluft durch mein heruntergekurbeltes Seitenfenster. Das Radio schwieg. Draußen klapperten Haken und Ösen gegen die im Spalier stehenden Fahnenmasten, und die rot-weißenDannebrogs flatterten vorbildlich an deren Spitzen. Gerade schwang sich eine Möwe von einem der Poller auf, drehte eine Runde, kreischte. Ich sah sie hinabstoßen ins trübe, wenig bewegte Hafenbecken und verlor sie aus dem Blick.

Das war er also, der Moment davor. In der Rückschau lässt sich das genau bestimmen. Was sich danach ereignete, war bereits Teil jener Geschichte, die sich zu entspinnen begann. Unserer Geschichte,meiner Geschichte.

Keine zwei Minuten sollten noch verstreichen, bis sich das Colin-Archer-SchiffThor hinter der Mole ins Bild schob, mit tadellos strahlendem Namenszug am Bug, an Deck unsere beiden Freunde Ute und Gero, die uns für ein verlängertes Wochenende auf der Insel besuchen wollten. Von Rostock kommend, hatten die beiden die Ostsee in eintägiger Fahrt überquert, hatten bei Einbruch der Dämmerung irgendwo unterwegs in Küstennähe geankert, in ihren Kojen übernachtet und dort vermutlich gemacht, was man eben so macht, wenn das Schiff sanft schaukelt, die Sonne untergeht und dieses Glitzern überm Wasser liegt, und waren an diesem Morgen kurz nach Sonnenaufgang weitergesegelt, um die letzten Seemeilen bis zu