Am Montag nach dem Verhör am Samstag erschien Eckhard Hieronymus zehn Minuten vor elf im Haus der SA in der Kesselstraße 17, um das Protokoll des Verhörs zu unterschreiben. Diese Auflage hatte ihm der Vorsitzende im Beisein des rechten Beisitzers mit den Gesichtszuckungen und dem goldenen Parteiabzeichen am späten Samstagabend um viertel vor zehn gemacht, als das Verhör nach sechsstündiger Dauer zu Ende gegangen war. Wieder standen Männer in ihren braunen Uniformen vor dem Eingang, die sich in kleinen Gruppen nach beiden Seiten auf dem Bürgersteig verteilten. Als hätte der Montag für sie keine Arbeit, standen, rauchten und lachten sie, schmissen die abgerauchten Zigaretten auf den Bürgersteig und auf die Straße, steckten sich neue Zigaretten an und glotzten glupschäugig aus ihren stumpfblöden Gesichtern dem Ankommenden entgegen, der sich durch die qualmenden Gruppen den Weg bahnte, nach einigen Stufen den Eingang des braunen Hauses betrat und sich im ersten Raum links beim Telefonisten in Uniform meldete und den Grund seines erneuten Erscheinens angab. Es war derselbe Mann, der auch am Samstag neben dem Telefon saß und im Völkischen Beobachter blätterte, ein Anfangdreißiger, der trotz Uniform noch einige Kenntnisse im zivilen Umgang mit Menschen hatte. Wieder drehte er zweimal die Wählscheibe und wieder ließ er sich nach einiger Wartezeit einiges vom anderen Ende der Leitung durchsagen. Dann legte er den Hörer auf, blickte den Superintendenten Dorfbrunner mit dem Rest des unverstandenen Unglaubens an und sagte ihm, dass sich die Sache erledigt hätte. Eckhard Hieronymus blickte ungläubig zurück und konnte die Sache zwischen Samstag und Montag auch nicht verstehen. Das Wochenende passte eben nicht unter einen Hut. So schauten sich die beiden noch eine Weile an, der eine in der mit der Zeit gehenden, weit verbreiteten braunen Uniform, der andere in der besonderen Kleidung des Zivilen, dem der rückwärtige, aufrechte, noch wirbelsäulenungebrochene Anachronismus eines dickköpfigen Sonderlings nicht ganz abzusprechen war. Der Mann neben dem Telefon, der diesmal nicht im Völkischen Beobachter blätterte, löste seinen Blick und sagte: “Sie können gehen, Heil Hitler!”. Während Eckhard Hieronymus bei diesem Gruß innerlich zuckte, putzte sich äusserlich der SA-Mann die Hände im braunen Taschentuch ab, das er wieder in die Tasche steckte und dann das auf dem Tisch liegende ‘Butterbrot’ aus dem Völkischen Beobachter auspackte. Eckhard Hieronymus verzichtete auf die deutsche Erwiderung des deutschen Grußes, verließ das braune Haus und nahm den Weg zurück nach Hause. Er nahm den Weg mit den gemischten Gefühlen der hängengebliebenen Unsicherheit, die an ihm haften bleiben sollte. Dennoch war, zumindest vorerst, nicht zu bestreiten, dass die Aktion des Doppelagenten Rauschenbach ihre ersten ‘Früchte’ trug.
“Das ging aber schnell”, sagte Luise Agnes erstaunt. Sie fragte: “Hast Du denn das Protokoll so schnell gelesen, dass doch über ein sechsstündiges Verhör ging?” “Ich habe garnichts gelesen”, antwortete Eckhard Hieronymus, “die Sache sei erledigt; das sagte mir der SA-Mann im Melderaum, der diese Nachricht telefonisch erhielt und mir mit einem ungläubigen Blick weitergab.” Wie bei ihm, so blieb auch bei Luise Agnes das Gefühl der Erleichterung auf die Nachricht, dass sich die Sache erledigt hatte, aus. Die Familie war gezeichnet; die Akte ‘Dorfbrunner’ war bei der Gestapo angelegt und konnte jederzeit gezogen werden. Wer einmal in diesen Mühlen gemahlen wurde, der wusste, dass es kein Entrinnen gab. Das braune Brandzeichen war ein ‘wetterfestes’ Zeichen, das nicht mehr wegzukriegen war.
Die Kriegsereignisse überstürzten sich: Im Mai (1943) ergibt sich in Tunis die deutsch-italienische Armee. Anfang Juli 1943 landen die Alliierten auf Sizilien und im Mai 1944 in der Normandie. Nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad (Januar 1944) befindet sich die deutsche Armee auf dem Rückzug. Am 4. Juni 1944 fällt Rom. Im gleichen Monat setzt die Rote Armee zur großen Offensive an und bricht im Mittelabschnitt durch die deutschen Verteidigungslinien. Russische Panzerdivisionen rollen auf die deutsche Grenze zu. Dennoch spricht der “Führer’ von den Höhen seiner Berchtesgadener Festung ‘Adlerhorst’ vom “todsicheren” Endsieg. Wem der Tod sicher war, aber nicht der Sieg, das konnten sich da schon viele denken; und sie dachten es für sich und ihre Familien. Am 20. Juli scheitert das Attentat auf ihn in der ‘Wolfsschanze’, dem ostpreussischen Hauptquartier. Die scheußlichen Aburteilungen der Helden der letzten Minute durch den “Volksgerichtshof” und ihre Hinrichtungen am Plötzensee beginnen, die sich über Wochen hinziehen. Der ‘Führer’ “räumt” noch einmal auf. Es ist die letzte Wahnsinns-“Säuberung” im nationalsozialistischen Stil, als die Großstädte bereits zerbombt, die großen Industrieanlagen zerstört oder lahmgelegt sind und Deutschland wehrlos in den Trümmern liegt. Der Teufel nimmt auf die geplagten Menschen keine Rücksicht. Standrechtliche Erschießungen wegen “Feigheit vor dem Feind”, “Wehrkraft- und Staatszersetzung” oder “Defätismus” gehören zur nazideutschen Tagesordnung.
Der neue Bischof machte es seinen Pastoren klar, weil auch er mit der Gestapo nichts zu tun haben wollte, dass sie in ihrer Exegese hautnah am Bibeltext zu bleiben und nicht in gegenwärtige Zeitgeschehnisse abzugleiten, beziehungsweise wegzurutschen hatten. Diese Dinge hatten außen vor der Kirchentür sowie den Türen von Herz und Verstand zu bleiben; sie hätten in der Kirche keinen Platz und sollten deshalb in der Predigt und im Gebet nicht erwähnt werden. Den Beweis, dass Dr. theol. Horchheimer, der neue Bischof, ein eingeschriebenes Parteimitglied, und das nicht erst seit gestern war, brachte eine Einladung des Gauleiters an ihn für ein Abendessen an einem Samstag im Mai in seiner prunkvollen Villa im Stadtzentrum, unweit des Rathauses. Der Bischof bat den Superintendent Dorfbrunner, ihn dabei zu begleiten. Sie betraten das Haus, das hell erleuchtet war. Der Portier in Zivil meldete den Besuch. Darauf kam der Gauleiter nach wenigen Minuten des Wartens aus einem großen Raum, ging den langen und breiten, hell erleuchteten Flur zum rund gewölbten Eingangsportal und begrüßte