I. Brief
Meine liebe Freundin!
Um Dir einen Beweis zu geben, wie gern ich Dir gefällig bin, schreibe ich auf Deinen Wunsch diese Erinnerungen für Dich nieder. Und so peinlich die Aufgabe auch für mich ist, so betrachte ich es doch als meine Pflicht, Dir mit der grössten Aufrichtigkeit die wüsten Szenen eines ausschweifenden Lebens zu schildern, dem ich mich jetzt endlich glücklich entzogen habe, um das Glück zu gemessen, das Liebe Gesundheit und ein nettes Vermögen mir bieten. Du weisst ja übrigens, dass ich von Natur aus wirklich verdorben gewesen bin und dass ich selbst in den Stunden wildester Ausschweifung nie aufgehört habe, Betrachtungen über Sitten und Charakter der Männer anzustellen, Beobachtungen, die bei Personen meines Standes gewiss nicht eben häufig sind.
Aber da ich jede unnütze Vorrede hasse, will ich Dich nicht lange mit Einleitungen langweilen und Dich nun darauf aufmerksam machen, dass ich alle meine Abenteuer mit derselben Freiheit erzählen werde, mit der sie begangen sind. Nur die Wahrheit soll meine Feder leiten, ohne Furcht vor den Gesetzen einer »Anständigkeit«, die für so intime Freundinnen, wie wir beide sind, nicht existiert. Ausserdem kennst Du ja selbst die Freuden der sinnlichen Liebe zu genau, als dass ihre Schilderungen Dich erschrecken könnten. Und Du weisst ferner, wie viele Leute von Geist und Geschmack, Nuditäten aus ihren Salons verbannen, um sie – mit Vergnügen in ihren Privatgemächern aufzuhängen. – Nun aber zu meiner Geschichte.
Man nannte mich als Kind Francis Hill. Ich bin in einem Dörfchen bei Liverpool von armen Eltern geboren. Mein Vater, den Kränklichkeit an schweren Landarbeiten hinderte, gewann durch Garnmachen einen massigen Verdienst, den meine Mutter durch Halten einer kleinen Kinderschule im Dorfe nur wenig vermehrte. Sie hatten mehrere Kinder gehabt, von denen ich jedoch allein am Leben blieb.
Meine Erziehung war bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr die denkbar einfachste. Lesen, stricken, kochen – das war alles was ich lernte. Was meinen Charakter angeht, so war sein Hauptmerkmal eine vollständige Reinheit und jene Furchtsamkeit unseres Geschlechtes, die wir gewöhnlich erst auf Kosten unserer Unschuld verlieren.
Meine gute Mutter war immer mit ihrer Schule und unserem Haushalt so beschäftigt, dass ihr wenig Zeit blieb, mich zu unterrichten. Übrigens kannte sie selbst das Böse auf der Welt zu wenig, um uns darin Lehren erteilen zu können.
Ich war eben in mein fünfzehntes Lebensjahr getreten, als meine teuren Eltern wenige Tage hintereinander an den Pocken starben. Durch ihr Ableben ward ich eine arme Waise ohne Hülfe und ohne Freunde; denn mein Vater, der in der Grafschaft Kent zu Hause war, hatte sich auf gutes Glück in meinem Geburtsort niedergelassen. Übrigens wurde auch ich von der ansteckenden Krankheit ergriffen, aber so leicht, dass nicht die geringste Spur sichtbar blieb. Ich gehe mit Stillschweigen über diesen herben Verlust hinweg. Die rasche Wandlungsfähigkeit der Jugend verwischte die traurigen Eindrücke dieser Zeit nur zu bald aus meinem Gedächtnis.
Eine junge Frau mit Namen Esther Davis, die um diese Zeit nach London, wo sie in Diensten stand, zurückkehren musste, schlug mir vor, mich zu begleiten und versprach mir, mir nach besten Kräften beim Aufsuchen einer Stellung behilflich zu