Die Sommerferien hatten begonnen, und das war großartig. Sieben herrliche Wochen, in denen man nicht an die Schule denken oder sich Gedanken über Hausaufgaben, Prüfungen oder Lehrer machen musste.
Außerdem war die Familie endlich zusammen, worüber Anny und Wynn sich gar nicht genug freuen konnten. Dabei hatten sie vor einigen Monaten noch nicht einmal etwas voneinander gewusst.
Anny hatte bei ihrem Vater Bryan in der Welt der Menschen gelebt und Wynn bei ihrer Mutter Ygraine in der Anderwelt, und es war einem Zufall zu verdanken gewesen, dass sie sich überhaupt getroffen hatten … oder war es mehr als Zufall gewesen? Vielleicht hatte ja auch das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt, als Annlea und Wynlon, wie die beiden eigentlich hießen, einander begegnet waren. Dass sie sich glichen wie ein Ei dem anderen, war ihnen sofort aufgefallen, die Wahrheit jedoch hatte sich ihnen erst nach und nach enthüllt.
Sie waren dieTwyns, die magischen Zwillinge, Kinder beider Welten. Während ihr Vater aus der Wirklichkeit der Menschen kam, war ihre Mutter eine echte Königin derDynai, wie die menschlichen Bewohner der Anderwelt genannt wurden.
Die Anderwelt war ein Reich, in dem es all die Tiere, Wesen und Gestalten, die man in der Menschenwelt nur aus Sagen und Märchen kannte, tatsächlich gab: Drachen, Gestaltwandler, Greife, Wasserspeier und noch vieles mehr. Was man bei den Menschen für pures Hirngespinst hielt, war hier ganz normal. Von der Wirklichkeit der Menschen war die Anderwelt durch eine unsichtbare Barriere getrennt, aber es gab die Möglichkeit, durch magische Kraft von einer Seite auf die andere zu wechseln.
Anny und Wynn waren schon kurz nach ihrer Geburt voneinander getrennt worden. Denn in der Anderwelt gab es einen bösen König namens Gorgon, der das friedliche Reich Anwyn angegriffen und unterworfen hatte. Doch da Gorgons Gier nach Macht und Besitz damit noch längst nicht gestillt war, wollte er auch die Welt der Menschen plündern, und um die Barriere zwischen der Anderwelt und der Menschenwelt dauerhaft zu öffnen, brauchte er die beiden Twyns.
Sein erster Versuch, Annlea und Wynlon zu sich zu locken, war gescheitert,1 und nun hatten Anny, Wynn und ihre Eltern zum ersten Mal Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen.
Ihr Vater hatte ein Häuschen auf der Insel Anglesey gemietet, das auf einer steilen Klippe direkt am Meer stand. Über einen Steg und einen schmalen Felsweg gelangte man hinab zum Strand. An warmen Tagen und wenn man mutig war (denn das Wasser war ziemlich kalt), konnte man in der Bucht baden oder angeln gehen, an kühleren Tagen ausgedehnte Spaziergänge unternehmen und dabei jede Menge ausgefallene Muscheln und Versteinerungen entdecken. Wenn es regnete (und es regnete ziemlich oft an der walisischen Küste), saß die ganze Familie in dem aus Natursteinen gemauerten Häuschen und spielte Karten oder Monopoly und hatte großen Spaß dabei. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ihre Mutter Ygraine, immerhin eine waschechte Königin, im Mau-Mau jeden an die Wand spielte?
Manchmal machten die Mädchen und ihre Eltern auch zusammen Musik. Anny packte dann ihre Geige aus und ihr Vater spielte Gitarre, während Wynn und ihre Mutter dazu alte Weisen aus Anwyn sangen oder Lieder der Gobblinge.
Und wo auch immer die Familie war, ob oben in der Hütte oder unten am Strand, war Blodo dabei und hielt Wache. Blodo – oder Blodowin, wie er eigentlich hieß – war ein Gargoyler. Ein Wasserspeier wie die, die an manchen Dachfirsten und Erkern alter Kirchen angebracht waren. Nur dass dieser hier lebte – ein beinahe mannsgroßes Wesen mit einer rüsselförmigen Schnauze, steingrauer Schuppenhaut und ledrigen Schwingen, die denen einer Fledermaus ähnelten und mit denen er tatsächlich fliegen konnte. Und da Blodowin aus Brokilien stammte, sprach er mit einem eigentümlichen Akzent. Auch war er schnell beleidigt, was ihn jedoch nicht davon abhielt, immer gut auf Anny und Wynn aufzupassen, wie er es einst geschworen hatte.
Tatsächlich ließ er sie während der gesamten Ferien nicht aus den Augen, versuchte jedoch, dabei möglichst unauffällig zu bleiben. So konnte es durchaus sein, dass er nachts auf dem Dach des Häuschens saß und Wache hielt oder dass am Strand plötzlich ein Felsblock stand, der tags zuvor noch nicht da gewesen war und der verdächtig nach einem Gargoyler aussah. Sich jederzeit in einen Stein verwandeln zu können, gehörte nämlich zu den besonderen Dingen, die Wasserspeier beherrschten. Und noch einige andere …
Anny und Wynn genossen es, zum ersten Mal in ihrem Leben so viel Zeit miteinander verbringen zu können. Gemeinsam spielten sie am Strand und gingen schwimmen oder unternahmen la