Summer und Chenoa waren zurück zum Ufer geschwommen und an Land gewatet. Nun standen die beiden Pferde auf dem schmalen Sandstrand und knabberten an dem dunkelgrünen Schilf, das aus dem Wasser ragte.
Shaman wäre auch gerne an Land gegangen, das spürte Zoe. Aber er wollte sie nicht allein lassen, mitten im See.
„Du musst keine Angst um mich haben, Shaman“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Isabelle und Cathy passen auf mich auf.“
Zärtlich klopfte sie seinen nassen Hals. Da schnaubte der schwarze Mustang laut und schwamm zurück.
„Hat dir noch niemand gesagt, dass Pferde keine Menschensprache verstehen?“, fragte Cathy ein paar Meter neben Zoe. Ihre pink gefärbten Haare leuchteten auf dem Wasser wie eine Rettungsboje. „Deshalb lernen wir hier in Snowfields ja auch Natural Horsemanship.“
„Das solltest du Shaman erklären, nicht Zoe“, sagte Isabelle, die zu Zoes anderer Seite auf dem Rücken lag. Ihre goldbraunen Haare schwebten auf der Wasseroberfläche wie ein seidener Fächer. „Er sollte sich schämen. Für ein Pferd verhält er sich vollkommen widernatürlich.“ Sie stammte aus Quebec und sprach mit einem bezaubernden frankokanadischen Akzent.
„Ich bin froh, dass es wenigstensein Pferd gibt, das mich versteht“, sagte Zoe. „Bei den anderen scheitere ich ja regelmäßig.“
Shaman hatte inzwischen das Ufer erreicht. Zoe sah ihm dabei zu, wie er aus dem Wasser stieg. Sein pechschwarzer kraftvoller Körper glänzte im Licht der Sommersonne wie flüssiger Asphalt. Wie schön der Hengst war!
Dann drehte sie sich wie Isabelle auf den Rücken. Auf der Wasseroberfläche liegend, blickte sie in den blauen Sommerhimmel.
Sie fragte sich, wie sie existieren konnte, bevor sie nach Snowfields gekommen war. Der See, der Wald, die Wildnis, all das war ein Teil von ihr. Wie hatte sie es so lange in der Stadt aushalten können?
Zoe und ihre Freundinnen besuchten das renommierte Reitinternat Snowfields Academy im Nordwesten Kanadas. Seit einem Jahr gab es dort eine ganz besondere Klasse mit dem Schwerpunkt Natural Horsemanship. Die Pferdeflüsterer – wie die Schüler vom Rest der Schule genannt wurden – lernten, mit Pferden zu kommunizieren. Ohne Druck, ohne Hilfsmittel und vor allem ohne Worte.
Zoe fiel das unendlich schwer. Im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden war sie nicht mit Pferden aufgewachsen, sondern hatte erst vor einem Jahr mit dem Reiten begonnen. Dass sie dennoch auf dem Eliteinternat angenommen worden war, verdankte sie allein Shaman.
Als Zoe dem schwarzen Mustang zum ersten Mal begegnet war, hatte er niemanden in seine Nähe gelassen. Keiner durfte ihn berühren oder gar reiten. Nur Zoe hatte er von Anfang an akzeptiert. Weil sie sich auf eine rätselhafte und absolut unerklärliche Weise verstanden.
Ob mit oder ohne Worte, Shaman spürte genau, was Zoe von ihm wollte. Genau wie Zoe fühlte, was in Shaman vorging.
„Komm schon, Zoe“, sagte Cathy. „Du wirst immer besser. Das Join-up mit Rocky gestern war super.“
„Rocky ist lammfromm“, entgegnete Zoe. „Isabelle hat den verrückten Duke dazu gebracht, ihr freiwillig seinen Huf zu geben. Das nenn ich Pferdeflüstern! So weit werde ich im Leben nicht kommen.“