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Sittsam spazierte Isabella Guerrero – von ihren Freundinnen und Mitspielerinnen im Bridgeclub Iris genannt – unter den Palmen des Friedhofs Bayside hindurch. Über ihr erstreckte sich ein schier endloser, blassblauer Himmel. Es war halb acht Uhr morgens, die Temperatur betrug um die 25 Grad, und der Tau, der immer noch auf dem breitblättrigen Sankt-Augustin-Gras lag, durchtränkte das Leder ihrer Sandaletten. In der einen Hand trug sie eine Handtasche von Fendi, in der anderen hielt sie die Leine, an der ihr Pekinese Twinkle wirkungslos zerrte. Iris schritt besonders achtsam zwischen den Gräbern und Anpflanzungen mit Buntnessel hindurch – denn erst drei Wochen zuvor hatte Grace Manizetti, beladen mit Einkäufen, auf dem Rückweg vom Publix das Gleichgewicht verloren und sich die Hüfte gebrochen.
Weil der Friedhof erst eine halbe Stunde zuvor seine Tore geöffnet hatte, hatte Iris ihn ganz für sich allein. So gefiel ihr das – Miami Beach wurde mit jedem Jahr voller. Selbst hier in Bal Harbour, am Nordende der Insel, war der Autoverkehr schlimmer, als sie das aus dem übervölkerten New York ihrer Kindheit kannte, als sie am Queens Boulevard aufwuchs. Und dieses scheußliche Einkaufszentrum, das vor einigen Jahren nördlich der Sechsundneunzigsten gebaut worden war, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Und nicht nur das: Von Süden her hatten sich – zusammen mit den Bodegas undcasa dies undtienda das – nicht wünschenswerte Elemente ausgebreitet. Gott sei Dank hatte Francis in weiser Voraussicht die Eigentumswohnung im Grande Palms Atlantic gekauft. Das Hochhaus in Surfside grenzte direkt an den Strand, sodass der Blick unverbaubar war.
Francis. Endlich sah sie sein Grab. Die Sonne Floridas hatte den Grabstein ein ganz klein wenig ausgebleicht, aber die Grabstelle wirkte sauber und ordentlich – dafür hatte sie gesorgt. Twinkle, der merkte, dass sie sich ihrem Ziel näherten, hatte aufgehört, an der Leine zu ziehen.
Es gab ja so vieles, wofür sie Francis dankbar sein musste. Drei Jahre zuvor war er von ihr gegangen, und seither war ihr nur noch bewusster geworden, wie dankbar sie ihm war. Denn Francis war so vorausschauend gewesen, das väterliche Fleischerei-Fachgeschäft von New York City an die Küste Floridas zu verlegen, damals, als dieser Abschnitt der Collins Avenue noch verschlafen und preiswert war. Zudem hatte Francis das Geschäft im Laufe der Jahre umsichtig vergrößert und ihr beigebracht, wie man die Waagen und die Registrierkasse bediente, sowie die Bezeichnungen und Eigenschaften der verschiedenen Fleischstücke. Und schließlich hatte Francis für den Verkauf des Ladens genau den richtigen Zeitpunkt getroffen – das Jahr 2007, bevor die Immobilienpreise abstürzten. Der riesige Gewinn, den sie gemacht hatten, hatte ihnen nicht nur erlaubt, die Wohnung im Grande Palms zu kaufen (zu einem Tiefstpreis, im Jahr darauf), sondern auch ermöglicht, dass sie viele Jahre lang einen komfortablen Ruhestand genießen konnten. Wer hätte gedacht, dass Francis so bald an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben würde.
Inzwischen war Iris am Grab angekommen und blieb einen Moment stehen, um über den Friedhof hinauszuschauen und die Aussicht zu bewundern. Trotz des Gedränges der vielen Leute auf der Straße und des starken Autoverkehrs bot sich ihr ein friedliches Bild: der Kane Concourse, der sich über die Harbor Islands in Richtung Festland erstreckte, die weißen Dreiecke der Segelboote, die bis hinauf zur Biscayne Bay kreuzten. Und alles war in freundliche, tropische Pastellfarben getaucht. Der Friedhof war eine Oase der Ruhe, vor allem morgens, wenn Iris sogar im März – dem Höhepunkt der Urlaubssaison – ein wenig Zeit am Grab ihres verstorbenen Ehemanns zubrachte, um zu sinnieren.
Die kleine Vase mit Plastikblumen, die sie neben den Grabstein gestellt hatte, stand irgendwie schief – sicherlich wegen des Tropensturms, der vorgestern über Florida hinweggefegt war. Sie justierte die Vase, zog ein Taschentuch aus der Handtasche, wischte die Blumen ab und begann, sie zu säubern. Plötzlich spürte sie, dass Twinkle wieder an der Leine zog, und das heftiger als zuvor.
»Twinkle!«, schalt sie. »Nein!« Francis hatte den Namen – kurz für Twinkle Toes – gehasst und den Hund immer Tyler genannt, nach der Straße, in der er aufgewachsen war. Aber Iris fand Twinkle schöner, und wenn Francis nun auch von ihr gegangen war, glaubte sie doch nicht, dass er etwas gegen den Namen einzuwenden hätte.
Sie drückte die Vase in den Boden