1. Kapitel
Cara, Liebes, wir sind spät dran!« Thomas klang drängelnd, denn er hatte es wie immer eilig, weil er mal wieder den Wecker ausgemacht und sich noch ein paarmal im Bett umgedreht hatte. Dabei stand an diesem Morgen im Büro doch ein wichtiger Termin an. Jetzt ärgerte er sich maßlos und brach in hektische Betriebsamkeit aus. »Wir müssen uns jetzt wirklich sputen!«
Thomas nahm seinen Job bei der Softwarefirma sehr ernst, und die Arbeit schien ihn in der letzten Zeit regelrecht aufzufressen. Er war unkonzentriert, oft schlecht gelaunt und stand unglaublich unter Strom.
»Ich beeile mich ja schon! Bin gleich so weit!« Cara war im Badezimmer ihrer Etagenwohnung, die sie nach dem Auszug ihrer beiden inzwischen erwachsenen Kinder Wiebke und Tim gekauft hatten. Sie lag in einem Mehrfamilienhaus der Wilhelmshavener Südstadt nahe des Bontekais.
Im Moment versuchte Cara verzweifelt, ihre Jeans zu schließen. Von einem Tag auf den anderen ging sie plötzlich nicht mehr zu. So als hätte irgendwer über Nacht die Hose enger genäht. Cara zog den Bauch ein, konnte den Knopf am Ende schließen und seufzte erleichtert. Dann schlüpfte sie in das grasgrüne Sweatshirt und prüfte ihr morgendlich verknittertes Gesicht. Das Ergebnis war deprimierend. Die Falten traten mittlerweile an Stellen auf, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie eine Rolle in ihrer Mimik spielten. Schaute sie tatsächlich immer so verkniffen, dass ihre Stirn gefurcht war wie ein ausgetrocknetes Flussdelta?
Würde dem Fortschreiten des Alterns ein Algorithmus zugrunde liegen, hätte sie sich vielleicht dagegen wehren können. Aber so? Älterwerden glich dem Angriff eines Pumas. Man ahnte, dass es sich unaufhaltsam näherte, aber wenn es so weit war, kam es doch plötzlich und unerwartet.
»Cara, beeil dich! Ich muss ins Büro!« Thomas hasste es, morgens das Bad mit Cara zu teilen, und wartete stets, bis sie es verlassen hatte. Jetzt lief er wie ein Tiger vor der Tür auf und ab. Ja, er brauchte Ruhe, um sich zurechtzumachen. Vor allem, seitdem es diese neue Kollegin Mara-Vanessa gab. Gerade mal dreißig Jahre alt, langes blondes Haar, fest sitzende, gut gepuschte Oberweite, die scheinbar nicht den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen brauchte. Ein fester, runder, leicht überdimensionierter Hintern, eben so, dass er für Männer nicht zu dick, aber überaus attraktiv wirkte. Natürlich nur knapp bedeckt von einem Rock, den Cara nicht als solchen bezeichnen würde. Dazu diese Strahleaugen mit unglaublich dichten und langen getuschten Wimpern.
Mara-Vanessa fand man selbstverständlich auch mit kleinen, schnuckeligen Bildchen bei Instagram. Hübsch posierend mit Augenaufschlag. Oder mit freiliegenden Oberschenkeln, gern auch Fotos ausschließlich mit Dekolleté-Blick. Thomas hatte arges Mitleid mit dem armen Ding, das ständig von Männern verfolgt wurde, die ihr eindeutige Avancen machten. Angeblich litt sie sehr darunter.
»Sie könnte sich etwas anders kleiden, sich nicht so heftig schminken und diese Instagram-Postings sein lassen, dann würde es sich auf natürliche Weise reduzieren«, hatte Cara mal vorgeschlagen, weil sich ihr Mitleid, was das anging, in Grenzen hielt. Aber Thomas war beratungsresistent. Er schätzte die Neue ein bisschen zu sehr. Angeblich hatte sie auch eine hohe berufliche Kompetenz vorzuweisen.
»Cara, willst du mich ärgern? Mara-Vanessa fängt heute meinetwegen extra etwas früher an! Ich habe es wirklich eilig!«
Cara schnaubte. »Tut mir leid, dass deine Kollegin sich noch ein bisschen gedulden muss. Für euren Termin wird sie sicher mitten in der Nacht aufgestanden sein, bloß damit ihr Make-up sitzt.« Cara griff nach dem Kajal. Ein bisschen konnte Thomas ruhig noch da draußen schmoren, vor allem, wenn das zur Folge hatte, dass er nicht pünktlich bei Mara-Vanessa war. Wenn sie mal nicht etwas mit seiner zunehmenden Gereiztheit zu tun hatte …
Ihrem Gatten würde es gut anstehen, sich etwas mehr auf die Familie zu konzentrieren und nicht bei einer so jungen Frau den Gockel zu spielen. Seine beiden Enkel, die sechs Monate alte Lina und der dreijährige Jonas, würden sich über einen Opa mit mehr Zeit bestimmt riesig freuen.
Cara band ihr halblanges dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz und entdeckte dabei weitere graue Strähnen. Oje, es ging wirklich täglich abwärts.
Sie schaute auf die Uhr. Nun musste auch sie sich tatsächlich beeilen, denn sie wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen. Cara jobbte halbtags bei Helene in einem kleinen Stofflädchen in Dangast. Um dorthin zu gelangen, brauchte sie von Wilhelmshaven eine knappe halbe Stunde, und sie wollte noch mit Thomas frühstücken. Cara öffnete die Tür.
»Liebes, was machst du denn nur so lange?« Thomas kniff ihr scherzhaft in die Hüftpölsterchen und sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. Sein Dackelblick, mit dem er alle Probleme zu lösen glaubte. »Weißt du, wo meine gepunktete Krawatte ist?«
Cara zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die hast du als Letzter umgehabt, nicht ich.«
»Sonst muss ich die andere nehmen.« Thomas stürzte ins Badezimmer, das sie vor ihrem Einzug grundlegend renoviert hatten. Große weiße Fliesen zierten die Wand, oben mit grauem Mosaik als Bordüre. Eine Eckbadewanne hatte ein