Die Schaltzentrale verändert sich
Gefühlsstarke Kinder sind Wirbelwinde von Kopf bis Fuß. Doch die Wurzeln ihrer überschießenden Emotionen, ihrer Rastlosigkeit, ihres Bewegungsdrangs, ihres unbändigen Gerechtigkeitssinns und auch ihrer nachdenklichen, grüblerischen Seite liegen in ihrem Gehirn, der Schaltzentrale alles menschlichen Fühlens und Tuns. Dank der modernen Hirnforschung wissen wir heute mehr darüber als je zuvor, wie unsere neuronalen Strukturen unser Temperament und unsere Persönlichkeit prägen. Diese Erkenntnisse können uns helfen, unsere Kinder besser zu verstehen und zu lernen, was sie wirklich von uns brauchen.
Besonders bedeutsam sind dabei die Erkenntnisse über die Plastizität des menschlichen Gehirns, also über dessen ungeheure Wandlungsfähigkeit gerade in der Kindheit. Sind die Veränderungen im Gehirn in den ersten Lebensjahren ausschließlich Reaktionen auf unmittelbare Erfahrungen mit der eigenen Umwelt und insbesondere den engsten Bezugspersonen, kommt ab dem siebten Lebensjahr eine neue Dimension der Persönlichkeitsentwicklung hinzu: Nun haben Kinder die intellektuelle Reife, selbst zubeschließen, was sie lernen und welche Fähigkeiten sie vertiefen wollen. Das heißt: Sie nehmen nun die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit zusehends selbst in die Hand. Dabei erfahren sie zwar immer noch Prägungen durch ihr Umfeld, können diese aber aufgrund ihres nun immer besser arbeitenden Neokortex zusehends auch reflektieren und gegebenenfalls als nicht hilfreich ablehnen. Wie bedeutsam diese Entscheidungen sind, welchen Input Kinder für sich annehmen und welchem sie sich verschließen, wird umso deutlicher, wenn wir uns klarmachen, dass das Gehirn unserer Kinder, je älter sie werden, immer stärker nach demUse-it-or-loose-it-Prinzip arbeitet. Das heißt: Das Gehirn befindet sich nun in einem permanenten Optimierungsprozess, im Zuge dessen nicht oder nur wenig gebrauchte Gehirnverbindungen kurzerhand gekappt und abgeschafft werden, um die ganze Energie in die Stärkung jener Synapsen zu stecken, die am intensivsten genutzt werden. Das Gehirn des Kindes spiegelt nun also immer weniger seine angeborenen Grundeinstellungen und immer stärker seine individuellen Interessen, Verhaltensweisen und Aktivitätsmuster wider. Die Hirnstrukturen, die auf diese Weise entstehen und sich verfestigen, prägen Persönlichkeit und Charakter eines Menschen oft ein Leben lang – und zwar deutlich stärker als sein angeborenes Grundtemperament. Denn auch wenn das Gehirn lebenslang formbar und veränderbar bleibt: Neue Synapsenverbindungen zu etablieren, wird mit zunehmendem Lebensalter immer schwieriger. Deshalb ist es so wichtig, welche Wege Kinder und Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden einschlagen und wie sie dabei unterstützt werden – denn die Lern- und Lebenserfahrungen dieser Zeit bestimmen maßgeblich, wie ihr Gehirn später arbeitet und funktioniert.
Einmal alles neu programmieren:
Was in der späten Kindheit passiert
Das menschliche Gehirn ist niemals »fertig« – es verändert sich stetig und passt sich so den Herausforderungen der jeweiligen Lebensphase an. Doch die größte Umbaumaßnahme im Gehirn passiert während der späten Kindheit und der frühen Jugend – jetzt wird es nämlich von einem primär reagierenden zu einem aktiv steuernden und planenden Organ. Grund dafür ist, dass die neuronalen Verbindungen im menschlichen Gehirn, wie es die US-amerikanische Neurologie-Professorin Frances E. Jensen plastisch ausdrückt, »von hinten nach vorne«[3] ausreift. Das heißt: Spielen in der Hirnentwicklung der ersten Lebensjahre vor allem das Stammhirn sowie die zunehmende Ausreifung und Ver