EINE BIELEFELDER NUMMER. Bielefeld ist zwanzig Kilometer entfernt, und von so weit rufen nur selten Kunden an. Wer mag das sein? Ich nehme auf, sage meinen Namen. Eine männliche Stimme antwortet, eher jung. Es ist ein Arzt aus der Notaufnahme im großen Krankenhaus. Heinrich ist vom Fahrrad gefallen. Er hat wohl Glück gehabt, nur Schürfwunden und ein blaues Auge. Aber sie behalten ihn ein paar Tage da. Er ist immerhin über achtzig. Sie wollen sichergehen, dass es keine heimlichen Sturzfolgen gibt. Blutgerinnsel zum Beispiel, das kann in dem Alter gut passieren. Vor allem, wenn man keinen Helm trägt.
»Oweia«, sage ich. »Das wird ihm aber nicht gefallen.«
»Stimmt«, antwortet der Arzt. »Er wollte sich direkt selbst entlassen. Wir haben gesagt, nur, wenn wir wissen, was seine Angehörigen davon halten.«
»Was für Angehörige?«, frage ich. Ich kenne bei Heinrich nur Martha genauer. Sie wohnt in seinem Haus, aber seine Frau ist sie nicht. Die anderen Leute in der Straße wollen mir immer erzählen, was es mit Heinrich und Martha auf sich hat. Es scheint sie sehr zu beschäftigen. Eine von ihnen, Gertrud, ist sogar extra in die Buchhandlung gekommen. Sie schwitzte vor Eifer, ich merkte es, als sie mir die Hand gab. »Gertrud«, sagte sie, »Schulten Gertrud heiß ich im Dorf. Man kennt mich da.« Sie kicherte kokett, aber es klang wie eine Drohung. Als ich Heinrich davon erzählte, winkte er ab. »Sie gibt sich den Anschein, meinen Haushalt zu führen.« Ich lachte. »Heinrich, dann ist sie aber nicht sehr fleißig.« Er schmunzelte. »Wenn Gertrud mich im Auto mit zum Aldi nimmt, kostet das hundert Euro. Diesen Service gönne ich mir nicht allzu oft.«
Gertrud ist also eindeutig keine Angehörige, und Martha ist zwar um eine Antwort nie verlegen, aber Martha ist eine schwierige Gesprächspartnerin, wenn man sie nicht kennt. Telefonate mit Martha dauern eine Weile, und am Ende hat man gute Laune. Aber das hilft dem Arzt nicht weiter. Wie sage ich ihm das möglichst diplomatisch?
Der Arzt holt mich aus meinen Gedanken zurück. »Er hat Sie als nächste Angehörige genannt. Er hat gesagt, ich soll alles Weitere mit Ihnen bereden.«
Ich stutze. Ich soll seine nächste Angehörige sein? Ich kann Heinrich gut leiden, aber bei einem Unfall würde mir nicht einfallen, den Ärzten Heinrichs Telefonnummer zu nennen. Meine Eltern, die Mitarbeiter in der Buchhandlung. Vielleicht auch meine Geschwister. Aber Heinrich käme mir nicht zuerst in den Sinn, der freundliche alte Kunde mit dem weißen Rennrad, um das die anderen Männer ihn beneiden. Wenn Heinrich zu Besuch in der Buchhandlung ist, kommen oft Personen herein, die sich für aufwändige Fahrräder interessieren. Männer. Sie fachsimpeln dann, und Heinrich freut sich, dass er das beste Modell hat. Weiß lackiert und leicht. Keine zwei Kilo, aus Carbonfaser. Ganz dünne Reifen, die man nicht selber aufpumpen kann. Man muss extra zur Fahrradwerkstatt fahren.
»Wenn ich tot bin, kannst du aussuchen, wem du es schenkst«, hat er einmal gesagt. »So ein Fahrrad hat schließlich eine Seele. Du wirst schon den Richtigen finden.«
Martha hatte gesagt, für mich kommt nur ein Rennwagen infrage, wenn er tot ist. Porsche. Sie hatten sich dann gestritten, über Fahrzeuge und das Leben überhaupt. Dass Martha schon dafür sorgen würde, dass ich einen Rennwagen bekäme. Dieses Hollandfahrrad, das er mir zum Geburtstag geschenkt hatte – lächerlich. Unangemessen. Ich hatte eingewandt, dass ich es ein schönes und großzügiges Geschenk fand; ich hatte das überhaupt nicht erwartet. Außerdem hat das Hollandrad rote Reifen. Heinrich ist fein, wenn er Geschenke macht. Aufmerksam. Martha findet Rot hässlich.
»Unterwäsche«, sagt der Arzt. »Können Sie Unterhemden und Schlüpfer bringen? Auch ein T-Shirt und Strümpfe?« Er hält inne. »Im Grunde alles. Wir würden seine Kleider am liebsten entsorgen, alles ist total verdreckt.«
Er hat recht, Heinrich läuft in Lumpen herum. Das wäre nicht nötig, er hat Geld genug. Ich ärgere mich manchmal darüber. Wenn er mein Mann wäre, würde ich ihm diese Schluderei verbieten. Martha sieht das genauso, Martha und ich sind oft einer Meinung über Heinrich. Aber Martha kann keine Kleider mehr für ihn kaufen. Sie bekommt es für sich selbst noch gerade so hin, sie kauft jede Woche irgendwas von Tchibo. Sie besitzt viele Strümpfe mit Blümchenmuster und pastellfarbene Fransenpullover. Marthas Kleiderschrank ist voll mit Textilien, aber eine Garderobe ist das auch nicht.
Wer sollte Kleider kaufen für die beiden, den Kühlschrank füllen und jetzt eben ins Krankenhaus fahren? Da ist sonst niemand. Sie leben in einem Museum ihres früheren Lebens, die beiden.
Als ich das erste Mal in dem kleinen Haus am Ende der Straße zu Gast war, dachte ich, ich mache eine Zeitreise. Es sah bei Heinrich und Martha ungefähr so aus wie damals in den Haushalten meiner Kindergartenfreunde. Aber nicht bei denen, die so waren wie wir, Mama und Papa und vier Kinder. Die anderen, die ich sehr gern besuchte, weil da viel mehr Menschen waren. Diese Häuser nannten sich »Wohngemeinschaften«, und sie waren dunkel und voll. Die Bewohner trugen ulkige Kleider, selbst gestrickte Pullover und Batikblusen. Alle hatten lange Haare, auch die Männer. Und die Kinder sprachen ihre Eltern mit Vornamen an. Sie aßen auch anderes Essen als wir, und sie redeten ständig m