2. KAPITEL
Sie ließen den Jeep dort zurück, wo er im Matsch stecken geblieben war, und liefen zu Fuß weiter.
Der steile, rutschige Aufstieg schien Stunden zu dauern.
Der Wind pfiff ihnen um die Ohren und brachte immer wieder neue Regengüsse. Angeline war dankbar dafür, dass sie in Brodys Windschatten ein wenig vor dem Sturm geschützt war. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, während sie weiterstapften. Jeder Schritt tat weh – ihre Hüften, ihre Waden, ihre Schienbeine schmerzten.
Endlich blieb Brody stehen.
Er hob die Hand und schlug fest auf ein breites schwarzes Holzbrett, das ihnen den Weg versperrte.
Eine Tür, realisierte sie benommen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie sie gar nicht bemerkt hatte. „Sie werden es nicht hören“, sagte sie, konnte ihre eigenen Worte durch den pfeifenden Wind jedoch selbst nicht hören.
Er legte die Finger in einem eisernen Griff um ihr Handgelenk, als sich die Tür knarrend öffnete, und zog sie mit sich hinein. Dann drückte er die Tür mit der Schulter wieder zu und schob den alten Holzbalken, der als Schloss diente, hinunter.
Dass es so plötzlich windstill war, war beinahe überwältigend. Zudem war es seltsam ruhig, bemerkte Angeline. So sehr, dass sie hören konnte, wie das Wasser von ihrem Poncho auf den Steinboden tropfte.
„Señora.“ Eine winzige Frau in einem Nonnengewand hielt ihr ein weißes Handtuch hin.
„Danke.“ Angeline nahm es entgegen und drückte es sich aufs Gesicht. Der Stoff war rau und dünn, aber er war trocken und fühlte sich wundervoll an. Sie lächelte die Nonne an. „Gracias.“
Die Frau sprach in schnellem Spanisch mit Brody. Und obwohl Angeline ihre Muttersprache seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, konnte sie der Nonne leicht folgen. Sie erklärte gerade, dass die Mutter Oberin nicht da sei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
„Wir sind keine Neuankömmlinge“, entgegnete Brody. Er sprach fast ohne Akzent, stellte Angeline etwas überrascht fest. „Wir sind gekommen, um unsere Kinder abzuholen.“
„Sí. Sí.“ Die Nonne drehte sich um und lief den mittleren der drei Flure, die von dem Vestibül abgingen, entlang.
Brody warf Angeline einen strengen Blick zu, als sie ihm nicht sofort folgte.
Sie wusste, dass sie später zusammenbrechen konnte,nachdem sie wussten, dass die Kinder in Sicherheit waren. Und doch wollte sie nichts sehnlicher, als auf den dunklen Steinboden zu sinken und den Kopf an die raue weißgetünchte Wand zu lehnen.
Als ob Brody ihre Gedanken gelesen hätte, umschloss er wieder ihr Handgelenk und zog sie der Nonne hinterher durch den Korridor.
So wie das Vestibül hatte auch der Flur weißgetünchte Wände. Es gab keine Fenster, aber jede Menge Wandleuchten mit weißen Kerzen, die hoch an den Wänden angebracht waren und für ausreichend Beleuchtung sorgten.
Sie liefen etwa fünfzehn Meter, bevor sie scharf links abbogen und nach etwa zwanzig weiteren Metern einen großen quadratischen Raum mit einem halben Dutzend langen hölzernen Tischen und Bänken erreichten.
„Der Speisesaal“, informierte die Nonne sie, ohne stehenzubleiben.
„Verstehst du das alles?“, fragte Brody Angeline auf Englisch.
Sie nickte. Sie hatte erst Englisch gelernt, als Daniel und Maggie Clay sie adoptiert hatten, nachdem ihr Heimatdorf zerstört worden war. Und auch wenn Angeline ihrer Muttersprache bewusst den Rücken gekehrt hatte, hatte sie sie nie vergessen.
Sie unterschied sich schon in so vielen anderen Dingen von den Leuten in der kleinen Stadt in Wyoming, in der sie mit Daniel und Maggie gelebt hatte. Noch bevor sie alt genug war, um ihr Handeln zu verstehen, hatte sie sich bemüht, akzentfrei Englisch zu sprechen. Sie wollte einfach so sehr dazugehören. Nicht, dass irgendjemand in ihrer Adoptivfamilie ihr das Gefühl gegeben hatte, dass sie nicht dazugehörte, doch im Innern hatte Angeline immer gewusst, dass sie anders war.
Sie lebte, während der Rest ihrer leiblichen Familie umgekommen war. Sie war aus einem armen Waisenhaus in Zentralamerika gerettet und mit in die USA genommen worden, wo sie von liebevollen Menschen aufgezogen worden war.
Doch sie hatte nie den Anblick des Feuers auf dem Feld, das ihre Cousins bestellt hatten, vergessen. Hatte nicht vergessen, wie die Flammen an den Wänden ihrer einfachen Häuser hinauf- und über die Dächer gezüngelt waren. Und was nicht verbrannt war, war mit Äxten zerhackt, mit Messer zerstückelt, mit Gewehren erschossen worden.
Nichts hatte überlebt. Keine Menschen. Kein Vieh. Kein Land.
Nursie.
Es war fünfundzwanzig Jahre her, und sie verstand immer noch nicht, warum sie verschont geblieben war.
„Sophia“, sagte Brody streng und riss sie aus ihren dunklen Gedanken. Angeline konzentrierte sich auf seine tiefblauen Augen, un