Die Praxis von Dr. Elizabeth Carmichael befand sich in der Heidelberger Altstadt, einem Ort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben waren. Ricarda Neumann parkte ihren dunkelbraunen SUV auf einem schattigen Platz hinter der alten Gründerzeitvilla, klemmte sich den Ordner mit Maries Befunden unter den Arm und half ihrer Tochter aus dem Fond des Wagens.
Es war ein sonniger, windumwehter Donnerstag und der Geruch von Krokussen und frisch gemähtem Rasen hing in der Luft. Ein Tag, der zum Verweilen im Park oder im Garten eingeladen hätte, doch für Ricarda und ihre Familie gehörten solche Tage der Vergangenheit an. Seit Marie sie auf eine Odyssee des Schicksals, eine Reise über die höchsten Berge und durch die tiefsten Täler menschlichen Daseins, mitgenommen hatte, existierte die Welt um sie herum nur noch als bloßes Gefüge, dessen Zahnräder zwar ineinandergriffen, jedoch nie die Wirkung erzielten, die früher einmal den Reiz des Lebens ausgemacht hatte. Die Welt war um ihre Einzigartigkeit beraubt, ihren Zauber, der allen Dingen innewohnte. Jetzt drehte sie sich einzig und allein um den nächsten Arztbesuch, den nächsten verzweifelten Versuch, Marie das lang verlorene Lächeln wiederzuschenken und eine scheiternde Ehe vor dem Aus zu bewahren.
Im Hausflur, einem langen, gefliesten Gang, der zu einer verschnörkelten Holztreppe mit breiten, an den Rändern rund zulaufenden Stufen führte, schlug ihnen ein Hauch arabischer Kräuter und Gewürze entgegen.
Marie begann zu quengeln, doch Ricarda schob sie weiter vorwärts, bis sie die Praxisräume im ersten Stockwerk erreicht hatten. Eine junge Sprechstundenhilfe öffnete ihnen die Tür und brachte sie ins Wartezimmer, wo sich Ricarda aufmerksam und ein wenig irritiert umsah. Bis auf die drei Korbstühle, die sich harmonisch in den lichtdurchfluteten Raum mit einem Bücherregal, einer großen Zierpalme und einer antiken Büste einfügten, erinnerte nichts an ein gewöhnliches Wartezimmer, und es war auch das erste Mal, dass Ricarda keinen überflüssigen Fragebogen ausfüllen oder sich wegen ihres Privatpatienten-Status’ ausweisen musste. Dr. Carmichael schien die Dinge anders anzugehen.
Ricarda erlaubte sich, einen Moment die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Die vielen schlaflosen Nächte, in denen Marie weinend im Bett lag, nicht ansprechbar, als würde sie mit aller Gewalt in der Traumwelt festgehalten werden, forderten ihren Tribut. Seit einigen Tagen fiel es ihr schwer, konzentriert und wach zu bleiben. Sie dachte an Maries erste Lebensjahre. Wie schön es damals gewesen war, wie harmonisch und ruhig. Es kam ihr so lange her vor … eine Ewigkeit.
»Frau Neumann, Dr. Carmichael empfängt Sie und Ihre Tochter jetzt.«
Ricarda fuhr erschrocken hoch, bemühte sich um ein freundliches Lächeln und bedeutete der Arzthelferin, ihr einen Moment zu geben. Marie hatte sich wieder einmal in die hinterste Ecke des Raums zurückgezogen, wo sie, die Beine mit den Armen fest umschlungen, vor und zurück wippte.
»Komm Schatz, Frau Doktor wartet.«
Marie reagierte nicht. Ihr Blick war auf etwas geheftet, das sich anderen entzog, etwas, das nur in ihr selbst zu existieren schien. Ricarda hätte ihr Leben gegeben. wenn sie dadurch in ihre Tochter hätte hineinschauen können. Aber das, was sie sehen könnte, ängstigte sie umso mehr. Vorsichtig nahm sie eines der dünnen Ärmchen in ihre Hände und half ihrer Tochter beim Aufstehen.
Das Behandlungszimmer war genauso, wie Ricarda es sich nach ihrem ersten Eindruck der Praxis vorgestellt hatte: ein großer, heller Raum mit einem auf die Straße hinausgehenden Erker, in dem eine Gitarre und andere Musikinstrumente standen. Stuck an den Wänden, Eichenparkett und ein langer, geschwungener Mahagonischreibtisch. Alles zeugte von Stilempfinden und Erlesenheit, ohne dabei aufgesetzt oder übertrieben zur Schau stellend zu wirken. Es war derselbe Stil, den Dr. Elizabeth Carmichael auch privat lebte, und die Ärztin selbst fügte sich so harmonisch in das Zimmer, dass sie damit verschmolzen zu sein schien.
»Bitte, setzen Si