Kapitel 1
New York City
Juni 1858
Marianne Neumanns Finger zitterten so sehr, dass sie das erste Notizbuch fast nicht aufschlagen konnte. In der Schublade lagen noch sechs weitere Bücher. Wie sollte sie es schaffen, sie alle durchzublättern?
Als sie Geräusche auf dem Flur hörte, erstarrte sie und warf einen Blick zur geschlossenen Bürotür. Sie hielt den Atem an und betete, dass sich die Schritte wieder entfernen würden. Nach nur zwei Wochen bei der Children’s Aid Society konnte sie es sich nicht leisten, dabei erwischt zu werden, wie sie im Schreibtisch des Leiters der Organisation herumschnüffelte.
Einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, regte sie sich nicht und lauschte mit angehaltenem Atem den Schritten, die sich auf dem Flur entfernten und langsam verhallten. Sie atmete tief aus und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Notizbuch, das mit einem einfachen, braunen Lederumschlag eingebunden war.
Sie schlug es vorsichtig auf der ersten Seite auf. Als Datum oben auf der Seite standApril 1855. Mit zitternden Fingern blätterte sie in dem Buch und stellte fest, dass die Einträge unterschiedlich lang waren. Auch die Handschriften änderten sich häufig. Mehrere Seiten waren verknittert und die Tinte war an einigen Stellen, an denen Kaffee oder eine andere Flüssigkeit verschüttet worden war, unleserlich geworden. Der letzte Eintrag stammte von Ende 1855 – er lag also fast drei Jahre zurück.
Sie klappte das Buch zu und räumte es wieder in die Schublade, in der sie es gefunden hatte.
Ihre Hand strich über die unterschiedlichen Buchrücken. Sie musste die Aufzeichnungen vom vergangenen Herbst finden. Welches Buch enthielt die Informationen, die sie brauchte? Sie versuchte, das nächste Buch herauszuziehen, aber es war auf beiden Seiten eingeklemmt. Draußen war die Luft an diesem Juniabend inzwischen etwas kühler geworden, aber im ersten Stockwerk des Gebäudes der Children’s Aid Society herrschten nach wie vor eine große Hitze und eine hohe Luftfeuchtigkeit.
„Komm schon!“, flüsterte sie. Dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance, Informationen über ihre vermisste Schwester zu finden.
Während ihre zitternden Finger ein weiteres Buch herausholten, bemühte sie sich, die letzte schwache Hoffnung nic