»Das ist aber schön, daß Sie wirklich einmal kommen.« Frau Reisner streckte ihrer Besucherin beide Hände entgegen. Sie freute sich aufrichtig, denn sie hatte sich mit Frau Rennert immer gut verstanden. Viele Jahre lang waren die beiden Arbeitskolleginnen gewesen.
»Vorgehabt hatte ich es ja schon lange. Nun ja, man ist nicht mehr die Jüngste. Ich verlasse Sophienlust nur noch selten.«
Frau Rennert, eine ältere, aber sehr mütterlich wirkende Frau, lächelte. Dabei sah sie sich um. Wie öde sah die Halle dieses Kinderheims aus. Die Wände waren grau, auf dem Boden lag kein einziger Teppich. Anstelle von fröhlichem Kinderlachen war Weinen zu hören. Wie anders war es dagegen in Sophienlust.
»Verzeihen Sie«, sagte Frau Reisner. »Ich glaube, da gibt es wieder einmal Streit. Wollen Sie mitkommen?« Noch bevor Frau Rennert antworten konnte, eilte sie schon in einen angrenzenden Raum.
Else Rennert, die Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, ging hinter ihr her. Noch immer stellte sie Vergleiche zwischen diesem städtischen Kinderheim und dem Kinderheim Sophienlust an, wo sie nun schon seit so vielen Jahren tätig war.
»Was ist denn hier los?« fragte Frau Reisner. »Müßt ihr euch denn immer zanken?« Sie eilte auf zwei Kinder zu, die sich um ein Buch stritten.
»Ich will jetzt lesen«, erklärte ein kleines Mädchen. Nochmals riß sie an dem Buch – und plötzlich hatte sie eine Seite in der Hand.
»Jetzt ist es kaputt«, heulte der Junge auf. »Es war mein Buch.«
»Nein.« Auch dem Mädchen liefen nun Tränen über die Wangen. »Das Buch hat mir gehört. Ich habe es immer angeschaut.«
»Du hast doch die Puppe«, schluchzte der Junge. »Meinem Teddy aber fehlt ein Bein.«
Das Mädchen gab keine Antwort. Es drehte sich um und drückte ihren Kopf in Frau Reisners Schoß. Der Junge lief dagegen auf ein junges Mädchen zu, das gerade den Raum betrat.
»Du mußt sie bestrafen«, forderte er. »Sie ist böse.«
Frau Rennert beobachtete still diese kleine Szene sowie die anderen Kinder, die sich verängstigt in eine Ecke zurückgezogen hatten.
»Es ist ja schon gut«, versuchte Frau Reisner zu trösten. Flüchtig strich sie der Kleinen über das Haar, dann wandte sie sich unwillig an das junge Mädchen. »Wo waren Sie, Schwester Renate? Sie sollten doch bei den Kindern bleiben.«
»Ich mußte nach Martina sehen«, kam es trotzig von den Lippen des jungen Mädchens, das Schwesterntracht trug. »Martina hat hohes Fieber.«
»Und ich muß mal«, meldete sich ein Kind.
»Hast du etwa wieder in die Hose gemacht?« fragte die Schwester.
»Nein, aber Julia hat es getan.« Triumphierend streckte die Kleine ihre Hand aus. »Sieh nur nach, ihre Hose ist sicher naß.«
»Julia, ist das wahr?« rief die junge Kinderschwester und schob den Jungen, der noch immer schluchzte, von sich.
Das Kind, das Julia genannt wurde, stand still da. Es gab keine Antwort, starrte nur vor sich hin.
»Ihr seht doch, daß wir Besuch haben«, sagte Frau Reisner. »Seid ein bißchen lieb, dann dürft ihr hinaus in den Garten gehen.«
»Ja«, sagten einige Kinder gehorsam, setzten sich aber da, wo sie gerade standen, einfach auf den Boden.
Frau Reisner wandte sich ihrer ehemaligen Kollegin zu. »Kommen Sie, Frau Rennert, ich will mal sehen, ob wir einen Kaffee bekommen. Ich habe jetzt sowieso Freistunde.«
»Und die Kinder?« fragte Else Rennert. Sie sah alle nochmals der Reihe nach an. Kein einziges Kind lächelte.
»Die Kinder sind gewohnt, allein zu sein.« Resignierend zuckte Frau Reisner die Achseln. »Es fehlt uns an Personal. Wir haben auch nur zwei Hände. Schwester Renate, ich hoffe, Sie kommen mit den Kindern zurecht. Wenn nicht, ich bin im Empfangszimmer.«
Die junge Schwester sah nur kurz hoch und nickte. Ihr Gesicht war vor Ärger gerötet. »Drei Jahre alt – und noch immer macht sie in die Hose«, schimpfte sie laut.
Frau Reisner seufzte, dann wandte sie sich ab. »Kommen Sie!« Sie schob ihre ehemalige Kollegin fast aus dem Zimmer. »Ich bin so froh, daß Sie da sind, und möchte mich mit Ihnen in Ruhe unterhalten. Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?«
»Es dürfen wohl zehn Jahre her sein, daß Sie mich in Sophienlust besuchten.«
»Ja, Sophienlust.« Frau Reisner seufzte erneut. »Ich h