Meine Identität ist das Exil
Nora Bossong
Es gibt keine Wahrheiten, nur Formulare. Dieser Satz wird mir noch lange nach den Gesprächen durch den Kopf gehen, die ich in New York geführt habe, mit Menschen, die in die USA gekommen sind, um Asyl zu suchen. Was für sie Heimat bedeutet, will ich von ihnen wissen und zugleich besser verstehen, wie es um das Einwanderungsland USA und die Weltoffenheit einer Stadt wie New York bestellt ist in den Monaten, da im Präsidentschaftswahlkampf der republikanische Kandidat erfolgreich mit hohen Mauern entlang der mexikanischen Grenze und einem generellen Einreiseverbot für Muslime wirbt.
Im Spätsommer 2016 bin ich für zwei Wochen in New York, um mir einen Eindruck zu verschaffen, wie es den Menschen ergeht, die als Geflüchtete oder Asylsuchende in diese Großstadt kommen, die als so liberal und multikulturell gilt. Angeblich gehört New York zu den drei Staaten mit den meisten Geflüchteten, doch nach ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass kein einziger mehr in der Metropolregion wohnt. »Die Flüchtlinge aus unserem Programm sind umgesiedelt worden«, bekomme ich von einer Hilfsorganisation mitgeteilt. New York City sei einfach zu teuer. Henrike von der Organisation IRAP bemerkt trocken, dass die US-Behörden schon Schwierigkeiten hätten, die Quote von 10 000 syrischen Geflüchteten einzuhalten, die pro Jahr aufgenommen werden sollen, aufs ganze Land verteilt, ein Fünftel nur von der Aufnahmezahl, die sich Kanada für denselben Zeitraum gesetzt hat. Doch bislang seien in den USA nicht einmal halb so viele Syrer angekommen. Ich versuche Kontakt aufzunehmen zu Migranten, insbesondere zu den illegal in New York lebenden Geflüchteten. Ein Freund erzählt mir, er kenne zwar einige illegale Migranten, aber die hätten Angst, Ärger mit den Behörden zu bekommen. Sie wollten auf keinen Fall mit einer Reporterin sprechen. Fast kommt es mir luxuriös vor, dass der junge Mann und die beiden Familien, die ich schließlich doch kennenlerne, mit dem Flugzeug und einem Touristenvisum in die USA gekommen sind und nicht heimlich über die mexikanische Grenze fliehen mussten. Bei Nacht und Nebel von Ciudad Juárez nach Texas, ohne Papiere und mit Glück der US Border Patrol entgehend, wie jene Männer, die mit mir im Wartezimmer von CALA sitzen, der Central American Legal Association. Untergebracht in einer maroden Souterrain-Etage im westlichen Brooklyn, mit einer Karte von Zentralamerika an der Wand bietet die NGO Asylsuchenden aus den Ländern zwischen Mexiko und Kolumbien kostenlose juristische Hilfe an.
»Wir können bei Weitem nicht alle beraten«, sagt Heather, eine der Juristinnen, die hier arbeiten. »Es gibt einfach viele, bei denen wir keine Aussicht auf Erfolg vermuten.« Diese sollten es lieber gar nicht erst versuchen, meint sie. Wer ein Asylverfahren verliert, werde schließlich sofort zurückgeschickt. Meist blieben diese Leute dann als »unauthorized immigrants« in den Staaten, elf Millionen leben schätzungsweise im Land, die meisten von ihnen kommen aus Mexiko. Zwar dürfen die Behörden offiziell nichts von diesen Menschen wissen, und es wird ihnen weder staatliche Unterstützung noch eine legale Arbeitserlaubnis zuteil, gleichwohl ist es ihren Kindern möglich, die Schule zu besuchen. Auch minimale Gesundheitsversorgung gibt es und zumindest für alle Stadtbewohner New Yorks eine City ID. Schwarzarbeit ist ohnehin möglich, im kleinen und großen Stil. Nicht zuletzt Trump habe sich gern dieser billigen Arbeitskräfte bedient, wie es ihm Hillary Clinton in einer Präsidentschaftsdebatte vorwarf.
Zum Teil sind die Neuankömmlinge schon einmal erwischt und zurückgeschickt worden, erzählt Heather. Trotzdem versuchen sie es wieder. Ich muss an Sisyphos denken, nu