1. KAPITEL
Drei Wochen später
In diesem Jahr war der Winter früh gekommen. Der späte Septembertag war so trübe und dunkel, als würde die Erde selbst den Tod ihres Großvaters betrauern. Die feuchte Luft und der eiskalte Regen passten zu Gabriella D’Arenbergs Stimmung, als sie allein am blumenbedeckten Grab ihres Großvaters stand.
Kurz zuvor hatte ihr auch der letzte Trauergast die Wangen geküsst und sein tiefes Beileid bekundet. Jeden Augenblick musste Consuelo zurückkommen, dann würden sie auch gehen. Er hatte sich entschuldigt, um einen Anruf entgegenzunehmen. Die anderen Trauergäste warteten inzwischen bestimmt schon bei Kanapees und Cognac im Hotel auf sie.
Gabriella war dankbar für den Moment der Stille. Hier, im Schatten des Eiffelturms, störte nichts ihre Gedanken. Die Geräusche der Großstadt drangen nur gedämpft durch die dicken Friedhofsmauern.
Doch plötzlich fuhr sie erschrocken herum, als sie aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten wahrnahm. Groß, breitschultrig und dunkel wie die Nacht tauchte er aus dem dichten Nebel auf. Als er langsam zwischen Skulpturen geflügelter Engel und pausbäckiger Cherubim auf sie zuging, begann Gabriellas Herz schneller zu schlagen. Und erstaunt bemerkte sie, dass ihr zum ersten Mal an diesem Tag warm wurde.
Raoul.
Sie hatte ihn schon beim Gottesdienst entdeckt. Es war unmöglich gewesen, seine Anwesenheit in der winzigen, überfüllten Kirche nicht zu bemerken. Bei der Aussicht, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen, mischte sich Freude in ihre Trauer. Umso enttäuschter war sie, als sie ihn später zwischen all den Gästen nicht mehr finden konnte.
Mit seinen schwarzen Augen und dem schön geschwungenen Mund war er der Schwarm ihrer Mädchenträume gewesen. Bei dem Gedanken an ihre erotischen Fantasien von damals schoss ihr selbst jetzt noch das Blut in die Wangen. Tagelang hatte sie geweint, als sie von seiner Hochzeit gehört hatte. Sie weinte noch einmal, als sie ein Jahr später vom Tod seiner Frau erfuhr. Aber das war jetzt über zehn Jahre her.
Zum Glück ahnte er von alledem nichts, sonst hätte Gabriella ihm jetzt niemals unter die Augen treten können. Und außerdem war sie natürlich längst über ihre Teenagerschwärmerei hinweg!
Das Geräusch von Stiefeln auf Kies wurde lauter. Der lange Ledermantel schwang um seine Beine, das schwarze Haar fiel bis auf den Kragen, und der Blick seiner dunklen Augen war noch intensiver, als Gabriella in Erinnerung hatte.
Ein Schauer lief über ihren Rücken. Irgendetwas an dieser Intensität machte ihr Angst, so als wäre sein entschlossener Schritt ein Vorzeichen von Gefahr.
Der Nebel! dachte sie. Daran musste es liegen!
Die kalte Luft bewegte sich und schien sich vor ihm zu teilen, dann war er bei ihr. Gabriella musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Die markanten Linien seines Gesichts wirkten wie gemeißelt. Er lächelte nicht, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Nicht heute.
Sie schüttelte ihre dunkle Vorahnung ab. Dies war Raoul, ein alter Freund der Familie! Sie begrüßte ihn mit einem nervösen Lächeln. So selbstverständlich, als wäre seit damals keine Zeit vergangen, schob sie ihre Hände zwischen seine.
Du bist gekommen! dachte sie, dankbar für die Wärme. „Raoul, ich bin so froh, dich zu sehen.“
Für einen Augenblick schien er wie versteinert, und Gabriella fragte sich, ob sie ihm zu nahe getreten war. Gehörte ihre Vertrautheit längst der Vergangenheit an?
Doch dann drückte er ihre Hände, und der harte Zug um seinen Mund wich einem traurigen Lächeln.
„Gabriella“, sagte er, als würde er jede Silbe in Ehren halten.
Er beugte sich vor und küsste sie andächtig zuerst auf die eine, dann auf die andere Wange. Sie erschauerte, als seine warmen Lippen ihre Haut berührten. Plötzlich schienen sich die vergangenen Jahre in nichts aufzulösen. Sie atmete tief seinen vertrauten Duft ein, nach sauberer Haut, warmem Leder und irgendwie holzig.
„Es tut mir so leid, Gabriella.“ Er zog sich zurück und ließ ihre Hände los.
Gabriella versuchte verzweifelt, nicht enttäuscht zu sein. Sie schob ihre Hände in die Manteltaschen, nicht nur, um sie warm zu halten, sondern vor allem, um sich selbst davon abzuhalten, wieder nach ihm zu greifen.
Ihre Teenagerfantasien mochten lange zurückliegen, aber jetzt war Raoul hier, fast schmerzhaft nah. Gabriella ballte ihre Hände in den Taschen zu Fäusten, sodass sich die Nägel in ihre Handflächen gruben.
„Ich wusste nicht, dass du kommst.“ Sie schaffte