1. KapitelKindheit und Emigration, Berlin und London
Ich bin am 19. Mai 1926 geboren. Ich glaube, um vier Uhr morgens, in der Offenbacher Straße in Wilmersdorf in Berlin. Dritte Etage eines bürgerlichen Mietshauses. Es war eine recht große, schöne Wohnung, glaube ich, erinnere ich so. Mit einem Balkon nach vorne und Pflanzen, einem Wintergarten nach hinten.
Mein Vater war ein Commis voyageur, ein Reisender. Er hat Knöpfe und Gürtel verkauft. Heute nennt man das Vertreter. Und zwar in England. Damals schon. Er arbeitete für eine Berliner Knopffabrik, die Socharszever& Preuss hieß. Und mein Vater ist jedes Jahr ungefähr die Hälfte des Jahres in England gewesen. Er reiste rum und verkaufte die Knöpfe an Kaufhäuser, und dann kam er nach Hause, und den Rest des Jahres machte er dann nichts. Er machte gerne Ferien, war gerne mit seiner Familie zusammen und mit Freunden, reiste gerne und hatte eigentlich nie vor, reich zu werden. Er war nie besonders ehrgeizig, aber er wollte gut leben. Und benutzte die übrigen sechs Monate, um nichts zu tun, das heißt um lauter schöne Sachen zu tun. Wir sind zum Skifahren in die Berge gefahren, und wir sind in den Zoo gegangen. Er verdiente ganz gut. Na ja, nicht sehr gut, aber ganz gut. Gut bürgerlich. Soviel ich weiß, hatten meine Eltern in Deutschland keine Geldsorgen. Wir hatten auch Bedienung, eine Köchin und ein Kindermädchen.
Meine Mutter war zehn Jahre jünger als mein Vater, beide waren schon einmal verheiratet gewesen. Meine Mutter war eine sehr energische Person. Ich weiß nicht, ob sie es immer war, aber ab dem Punkt, wo ich mich an sie erinnere, war sie sehr energisch, eine kleine Person, die nie stillsitzen konnte und von morgens bis abends arbeitete. Und wenn nichts zu machen war, erfand sie einfach etwas. Sie war eine sehr, sehr typische jüdische Mutter, würde ich denken. Mein Vater, der viel entspannter war, war eigentlich immer dabei zu sagen: »Ach Suse, setz dich doch mal endlich.« Ich erinnere das als einen permanenten Refrain im Haus. Susi raste rum, in die Küche oder zu irgendwelchen karitativen Veranstaltungen, oder sie traf jemanden, und dann ging sie zu einer Ausstellung, und dann ging sie ins Konzert und so weiter, und es hörte eigentlich nie auf.
Meine Mutter kam sozusagen aus der besseren Familie, einer jüdischen Bankiersfamilie, also relativ hoch angesehen, und mein Vater kam aus einer Kaufmannsfamilie, und das ist ja ein bisschen niedriger im Prestige. Sie lernten sich über eine Heiratsannonce kennen. Wer sie aufgegeben hat, ob mein Vater oder meine Mutter, weiß ich leider nicht. Mein Vater war mit einer Schottin verheiratet gewesen und im Ersten Weltkrieg in England interniert worden, weil er zufälligerweise in England war, als der Krieg ausbrach. Während er interniert war, hatte die Schottin mit irgendjemand anderem ein Verhältnis. Mittlerweile hatte er auch einen Sohn, meinen Halbbruder Douglas. Im Internierungslager konnten die Gefangenen arbeiten, sich aussuchen, was sie tun wollten. Paul, mein Vater, hat sich ausgesucht, einen Spielzeugladen mit selbst gemachtem Spielzeug aufzumachen. Das war seine große Ambition. Er wollte eigentlich gerne ein Handwerker sein, das durfte er nicht, weil man in einer guten jüdischen Kaufmannsfamilie kein Handwerker wird, sondern etwas »Besseres«. Aber in der Internierung war er, glaube ich, sehr glücklich. Da gibt es ein Bild, wo e