: Galsan Tschinag
: Die Karawane Reisebericht
: Unionsverlag
: 9783293303492
: 1
: CHF 7.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Galsan Tschinag, Stammesoberhaupt tuwinischer Nomaden, erfüllt sich 1995 einen Traum: Über zweitausend Kilometer führt er einen Teil seines in den Sechzigerjahren zwangsumgesiedelten Volkes zurück, zu den Weideflächen und Jagdgebieten im Hohen Altai. Ganze Generationen ziehen in einer biblisch anmutenden Karawane mit schwer beladenen Kamelen über schroffe Berge und durch karge Steppen nach Westen, um die ursprüngliche Lebensweise als Nomaden wieder aufzunehmen. In Geschichten und Tagebuchnotizen berichtet Galsan Tschinag von der Verwirklichung seines Traums mit ungewissem Ausgang.

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.

Die Vorgeschichte


Wieder einmal hatte der Gelbe Sedip einen roten Kopf. »Ich möchte noch Folgendes sagen!«, brüllte er nun schon zum dritten Mal, während er seinen Blick über die zusammengepferchten Menschen im Raum gleiten ließ und ihn wie eine stechende und schneidende Schere auf die drei Männer warf, die vorne an einem Tisch mit dem Gesicht zu den Versammelten saßen, ein jeder auf einem hohen Stuhl.

»Du hast genug geredet, und wir haben dich verstanden. Du erdreistest dich, dem Beschluss der Bezirksleitung zu widersprechen!«, unterbrach ihn der Versammlungsleiter, der mittlere der drei, ein wohlbeleibter Mann um die Vierzig. Auch er hatte einen roten Kopf, der im Unterschied zu dem von Sedip fleischig und rund war, riesig wirkte und zwischen dem dünnen schwarzen Deckel aus langen, nach hinten gekämmten Haaren und dem ebenso runden Oberkörper ohne Halsansatz festgeklemmt schien.

Der Mann sprach gequetscht und gequält, was in Verbindung mit seiner Statur noch mehr Gewicht bekam. Der Tisch mit der dunkelroten Decke war für alle drei zu kurz, und da keiner von ihnen ganz daneben sitzen mochte, mussten sie sich zusammendrängen.

»Hör mir zu, Batyj, du großer, fetter Mensch mit dem Hirn eines Spatzen und dem Herzen eines Hasen!« Wildentschlossen fuchtelte dabei der Redner mit der Hand, als wolle er damit auf seinen Widersacher einhacken. »Ich bin nicht jemand, der sich von einem wie dir vorschreiben lässt, was er zu sagen hat und was nicht, geschweige denn, sich das Wort verbieten lässt. Nein, Genosse Noch-Darga, du wirst dich, hoffe ich, noch daran erinnern, dass ich meine Jugend der Sache der Revolution verschrieben habe als einer der allerersten fünf Kommunisten auf tuwinischem Boden, ich, Sedip, mit dem feuerroten Parteibuch, das ich zur Herzseite getragen habe!«

Wieder ist es der Wohlbeleibte mit dem glühenden Vollmondgesicht, der ihn unterbricht und höhnisch erwidert: »Das Parteibuch, das dir dann entzogen wurde! Dir würde ich raten, die Vergangenheit lieber nicht zu bemühen, da du sonst deine Schande hier noch einmal auftischen müsstest, denn keiner hat vergessen, was gewesen ist, und eine andere aufgeputzte Geschichte wird man dir hier nicht abnehmen, du Möchtegernkommunist und winziger dummer Blindgänger einer großen Stunde! Ist es so gewesen oder nicht? Ich frage dich vor dem Volk, du Gelber Sedip, Sohn des Schyrysch!«

Gelächter bricht aus. Die Menschen, die seit Stunden dicht gedrängt auf hölzernem Boden sitzen müssen, kommen in Bewegung, ein allgemeines Gemurmel entsteht. Der kahlrasiert