1. KAPITEL
Ungeduldig wartete Allison Warner darauf, dass ihre Schwester sich meldete, und zählte dabei, wie oft es am anderen Ende läutete. Nach dem vierten Mal schaltete sich der Anrufbeantworter ein – wie üblich. Bethanys Stimme bat sie, eine Nachricht zu hinterlassen.
Allison seufzte enttäuscht. Seit sie fünf Monate zuvor nach Arizona zurückgezogen war, hatte sie öfter Monologe auf dem Anrufbeantworter hinterlassen als mit ihrer Schwester gesprochen. Sie konnte nicht sagen, was sie mehr frustrierte – dass Bethany ihre Nachricht vermutlich ignorieren würde oder dass sie wusste, wer anrief, und trotzdem nicht abnahm. Trotzdem holte sie tief Luft und versuchte, unbeschwert zu klingen.
„Hi, Bethany. Hier ist Allison, deine Schwester“, scherzte sie, obwohl es gar nicht lustig war. „Es ist Donnerstagnachmittag, und ich fahre gleich zur Arbeit. Ich wollte fragen, ob du Lust hast, heute Abend essen zu gehen oder am Wochenende einen Shoppingbummel zu unternehmen. Wir könnten uns Möbel für das Kinderzimmer ansehen. Ich habe das ganze Wochenende frei. Aber wenn du lieber zu Hause bleiben möchtest, können wir das alles auch online regeln. Also ruf mich einfach an.“
Sie legte auf und verzog das Gesicht. Konnte man noch verzweifelter klingen? Und wusste sie nicht längst, dass es sinnlos war, Bethany zu bedrängen?
Du musst Geduld haben. Der Bruch in ihrer Beziehung war nicht über Nacht gekommen und auch nicht so schnell zu heilen.Sie braucht Zeit.
Davon hatte Allison zum Glück jede Menge. Sie schaltete den Computer aus und ordnete die Dinge auf ihrem Schreibtisch. Den schiefen Kaffeebecher, den sie im Töpferkurs zustande gebracht hatte. Den vertrockneten Flieder. Den selbst gebastelten Rahmen mit dem Foto, auf dem ihre Schwester und sie lächelnd die Köpfe zusammensteckten. Ein seltener Moment, von der Kamera festgehalten …
Gäbe es im Leben doch auch nur eine Taste, mit der man einen Augenblick einfrieren konnte, damit er nicht vorüberging … oder eine Rückspulfunktion, mit der man in die Vergangenheit zurückkehren konnte, um falsche Entscheidungen ungeschehen zu machen.
Das Foto war auf Bethanys Hochzeit gemacht worden. Damals hatten die beiden Schwestern einander so nahe gestanden wie nie wieder. Bittersüße Erinnerungen an die Feier und das letzte Zusammensein ihrer Familie gingen Allison durch den Kopf. Mit Tränen in den Augen hatte Bethany gelächelt, als ihr Vater sie zum Altar führte und Gage Armstrong übergab. Allison hatte neben ihr gestanden, als Brautjungfer und beste Freundin.
Ein paar Wochen später war Allison ihrem Freund Kevin Hodges nach New York gefolgt. Das war jetzt drei Jahre her, und drei Jahre waren eine lange Zeit. Inzwischen war ihr Vater erkrankt, Bethanys Ehe war gescheitert, und Allison hatte sich so sehr in ihre Arbeit gestürzt, dass sie beides gar nicht richtig mitbekommen hatte.
Sie war nach Hause zurückgekehrt, aber die dreitausend Meilen waren leichter zu überbrücken als die emotionale Distanz zwischen ihr und ihrer Schwester. Zumal Bethany kein Blatt vor den Mund genommen hatte.Übernimmst keine Verantwortung … zu weit weg … zu spät …
Das schlechte Gewissen raubte Allison fast den Atem. Sie würde alles geben, um die Zeit zurückdrehen zu können. Wäre sie doch nur bei ihrer Familie gewesen, als sie am meisten gebraucht wurde. Aber die Chance hatte sie verpasst, und jetzt musste sie das Beste aus dem Hier und Jetzt machen.
„Du musst Bethany dazu bringen, sich zu öffnen und darüber zu sprechen, was zwischen ihr und Gage schiefgelaufen ist“, hatte ihre Mutter gesagt, bevor sie zu ihrer dreiwöchigen Kreuzfahrt durch die Karibik aufgebrochen war. Auf der Reise hatten ihre Eltern den fünfunddreißigsten Hochzeitstag begehen wollen. Nachdem ihr Vater sechs Monate zuvor gestorben war, hatte ihre Mutter entschieden, die Schiffsreise trotzdem zu unternehmen und seiner zu gedenken.
Allison vermisste ihren Vater schmerzlich. Sein Lachen, seine Liebe, seine Ermutigung, immer nach den Sternen zu greifen. Er hätte es schrecklich gefunden, dass sein Tod einen Keil zwischen seine Töchter trieb. Zwischen seine Mädchen, wie er Bethany, Allison und ihre Mutter stets genannt hatte. Es hätte ihm das Herz gebrochen. Und obwohl Bethany es nicht glaubte, brach es auch Allison das Herz.
Seufzend stellte sie den Bilderrahmen zurück. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern, aber sie war fest entschlossen, sich mit ihrer Schwester auszusöhnen. Im Moment brauchte Bethany ihre Familie mehr denn je, auch wenn sie es niemals zugeben würde.
Um halb sechs waren die Geschäftsräume von Knox Security fast menschenleer, und Allison ging den Flur entlang und löschte die Lichter. Sie hätte schon vor einer halben Stunde aufbrechen können, doch dies war ihre letzte Woche bei der Firma für Sicherheitssysteme, und sie wollte keine unerledigte Arbeit zurücklassen.
Am Montag würde