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Philosophieren und Pferdefreiheit
Das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir ließ sich leicht zusammenfassen: Sie fanden mich anstrengend und ich sie. Oft wirkte es, als stünde zwischen uns eine unsichtbare Mauer. Wir konnten uns sehen, aber nicht berühren. Nicht einmal richtig hören.
Ich weiß gar nicht, wann das anfing. Ich kannte es gar nicht anders. Meine Tante erzählte einmal, dass es früher besser war. Bis ich etwa anderthalb Jahre alt war. Da habe es einen Knick gegeben, den sich meine Tante selbst nicht erklären konnte. Jedenfalls waren beide Eltern ständig genervt – von mir, aber auch von meiner Schwester Tatjana. Das zeigte sich in vielen Details. Wollte ich Keyboard üben, hieß es: »Setz die Kopfhörer auf.« Gitarre durfte ich nur spielen, solange sie noch nicht von der Arbeit zurück waren. Beim Abendessen wurde nicht gesprochen. Da liefen Nachrichten, die bei uns wichtiger waren als das, was uns beschäftigte. Bekamen meine Schwester oder ich beim Essen mal einen Lachanfall, wie es Kinder manchmal bekommen, mussten wir den Tisch verlassen.
Meine Mutter wirkte so, als habe sie ihre Gefühle einfach abgestellt. Sie weinte nicht einmal mehr. Höchstens aus Wut. Niemanden ließ sie an sich heran, auch nicht uns Kinder. Manchmal fragte ich mich, ob sie vielleicht in jungen Jahren eine Vollkrise mit mir hatte. Und es dann später einfach nicht mehr richtig packte.
Es war an einem Weihnachtsfest, als Tatjana und ich uns ein Herz fassten. Ich kann nicht mehr sagen, aus welcher Situation heraus das geschah, aber wir fragten unsere Mama: »Warum umarmst du uns nie?«
Sie stutzte und sagte erst gar nichts. Nach langen Sekunden antwortete sie: »Seit mein Vater gestorben ist, lass ich niemanden mehr an mich ran. Seitdem muss ich klarkommen.«
Mit meinem Vater war es nicht einfacher. Während der Pubertät sprach er einmal ein halbes Jahr nicht mehr mit mir. Ja, mit gar keinem. Er lebte wie ein Geist in der Familie, aß mit uns, aber wenn ich ihn etwas fragte, reagierte er nicht. Er schaute mich nicht einmal richtig an. Quälend oft hatte ich mir überlegt, warum mein Vater nichts mehr sagte. Hatte er mich beim Tanz-in-den-Mai-Feuer rauchen gesehen? Mochte er mich deswegen nicht mehr? Fand er mich jetzt eklig? All das wurde nie in unserer Familie thematisiert. Genauso wie auch alles andere totgeschwiegen wurde: die Vorliebe meines Opas für den Alkohol. Seine Vergangenheit, die Flucht aus Ostpreußen. Ich war meist sehr aufgedreht, heute würde man sagen: hyperaktiv. Das nervte alle, umso mehr, weil ich ständig barfuß durch die Gegend lief.
Wenn es mich weit wegzog, setzte ich mich mit meiner Großcousine Sabine, die auch in dem Ort wohnte, in einen Trabbi. Mit ihm fuhren wir um die ganze Welt, in den Wilden Westen, in den kühlen Norden und den heißen Süden. Nur in den Osten zog es uns nicht so sehr. Das war die Sowjetunion. Der Trabbi konnte sogar schwimmen. Zumindest in unserer Vorstellung, denn tatsächlich war er ausrangiert und stand ziemlich eingewachsen in einer Hecke.
In der Schule gehörte ich zu den Alternativen. In den Pausen saßen wir philosophierend im Park, schauten in die Baumwipfel und träumten von Freiheit. Und weil das nicht nur eine kurze Hippie-Marotte war, gründeten wir eines Tages die philosophische Runde an unserer Schule. Einmal pro Woche lasen wir mit unserem Ethiklehrer Werke von Philosophen: Schopenhauer oder Nietzsche. Zu Hause gab es auch weniger schweren Stoff: Else Lasker-Schüler und andere literarische Expressionisten. Sie alle fassten unsere Gedanken in Worte und inspirierten uns. Auch zu Dingen, die aus Sicht der Schulleitung dann schiefgingen. Einmal veranstaltete unsere philosophische Runde eine Lesenacht, in der wir uns unsere Lieblingsausschnitte vortrugen. In der Pause hüpften wir Dissonanzen singend durch die leeren, dunklen Gänge der Schule – welche Freiheit! Der Hausmeister wusste nichts