: Mo Yan
: Die Schnapsstadt Roman
: Unionsverlag
: 9783293305557
: 1
: CHF 10.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In China brodelt die Gerüchteküche: In einer entlegenen Provinz sollen dekadente Parteikader, skrupellose Parvenüs, die nach der Wirtschaftswende zu Reichtum gekommen sind, kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Sonderermittler Ding Gou'er wird nach Jiuguo, in die sogenannte »Schnapsstadt«, entsandt, um der Fama dieser »Fleischkinder« auf den Grund zu gehen. Doch kaum hat Ding den Fall aufgegriffen, sieht er sich konfrontiert mit einer wahnhaften Welt, die von Aberglaube und Korruption, von Anmaßung und Gier beherrscht wird. Die Schnapsstadt ist eine virtuose Groteske, eine politische Allegorie, die das neue China der toten Ideale und seine gesellschaftliche Wirklichkeit kühn gegen den Strich bürstet.

Mo Yan (was so viel heißt wie »keine Sprache«) ist das Pseudonym von Guan Moye. Er wurde 1956 in Gaomi in der Provinz Shandong geboren und entstammt einer bäuerlichen Familie. Spätestens seit Zhang Yimous preisgekrönter Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt Mo Yan auch international als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur. 2012 wurde Mo Yan mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

ZWEITES KAPITEL


I


Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär hatten sich vor ihm aufgebaut. Mit vor die Brust gelegten linken Armen, ausgestreckten rechten Armen und offenen Handflächen standen sie ihm wie ein Paar Verkehrspolizisten im Einsatz gegenüber. Ihre Gesichter sahen einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Der Bergwerksdirektor hätte den Parteisekretär als Spiegel benutzen können und umgekehrt. Zwischen den beiden erstreckte sich ein vielleicht ein Meter breiter Pfad, der mit einem roten Teppich ausgelegt war und einen hell beleuchteten Gang kreuzte. Angesichts dieser aufrichtigen Beweise von Höflichkeit und Respekt schmolz Ding Gou’ers heroische Entschlossenheit dahin. Leicht vornübergebeugt stand er vor den beiden Funktionären und wusste nicht, ob er weitergehen sollte. Ihre freundlichen Mienen stiegen ihm wie ranziges Fett in die Nase, und der Geruch wurde von Minute zu Minute stärker. Durch Zögern konnte Ding Gou’er ihn weder mildern noch zum Erliegen bringen. Die Götter sprechen nicht – wie wahr! Zwar sprachen die beiden nicht, aber ihre Körpersprache war verführerischer und überwältigender als die süßesten honigtriefenden Worte, die je gesprochen wurden. Nichts und niemand konnte ihr widerstehen. Teils weil er sich dazu verpflichtet fühlte, teils weil er ihnen dankbar war, schritt er zwischen den beiden hindurch, und der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär reihten sich so hinter ihm ein, dass die drei Männer die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks bildeten. Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Das verwirrte Ding Gou’er, der sich deutlich an den Grundriss des Gebäudes erinnern konnte. Innerhalb der Fläche, die von den Sonnenblumen begrenzt wurde, konnten höchstens ein Dutzend Zimmer liegen. Für einen so langen Gang blieb einfach kein Platz. Alle drei Schritte hingen rote Laternen in Form einer Fackel an den gegenüberliegenden Wänden, die mit einer milchig weißen Tapete bedeckt waren. Die Messinghände, die die Fackeln hielten, waren glänzend poliert und wirkten erstaunlich lebensecht, als streckten sich wirkliche Hände durch die Wand. Mit wachsendem Schauder stellte er sich zwei Reihen von Messingstatuen vor, die zu beiden Seiten des Flurs ein Spalier bildeten. Der Weg über den roten Teppich glich dem Marsch durch eine Schlachtreihe bewaffneter Wächter. Ich bin gefangen. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor sind meine Wachmannschaft. Ding Gou’er blieb das Herz stehen. Dann öffneten sich ein paar kleine Spalten in seinem Gehirn und ließen ein wenig kühle Vernunft einströmen. Er rief sich seinen Auftrag ins Ge