: Tschingis Aitmatow, Juri Rytchëu, Galsan Tschinag
: Die Kraft der Schamanen Anthologie
: Unionsverlag
: 9783293308381
: 1
: CHF 7.80
:
: Psychologie, Esoterik, Spiritualität, Anthroposophie
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Aitmatow, Rytchëu, Tschinag: Die drei großen Autoren der asiatischen Steppen und Berge haben sich - jeder auf seine Weise - mit der Realität des Schamanismus in ihren Ländern beschäftigt. Diese Anthologie versammelt aus ihren Werken Szenen von der Arbeit und Wirkung von Schamaninnen und Schamanen, die ihr Leben prägten.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.

Erinnerung an den Wunderdoktor


Zu meiner frühen Kindheit gehört vor allem die Erinnerung an meine Großmutter Aimchan. Sie war eine herausragende Persönlichkeit und genoss bei den Menschen ihres Dorfes hohes Ansehen. Offenbar war sie eine weise Frau. Sie hatte meinem Vater vieles beigebracht und war sehr stolz auf ihn. Sie besuchte uns des Öfteren in der Stadt. Sie hatte ihren weißen Turban auf dem Kopf, den Eletschek, den nach unserer nationalen Tradition nur verheiratete Frauen tragen durften. Sie war eine stattliche, anmutige Erscheinung. Der Eletschek stand ihr sehr gut und verlieh ihr etwas Majestätisches. Sie war eine fesselnde, kluge Persönlichkeit, kannte viele Lieder und Märchen. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Und doch stand meine ganze Kindheit unter ihrem strahlenden Glanz – dem Glanz einer märchenhaften Welt.

Es war wieder einmal Sommerszeit, ich war fünf, sechs Jahre alt, und man brachte mich zu Großmutter. Wir brachen auf in die Berge – zum sommerlichen Nomadenlager. Wahrscheinlich war das einer der letzten großen Nomadenzüge in unserer Gegend. Das Nomadenleben neigte sich seinem Ende entgegen. Überall breitete sich die sesshafte Lebensweise aus. Neue Siedlungen entstanden, Kolchosen und Sowchosen. Da spielten die Jahreszeiten nicht die gleiche Rolle wie früher. Der Höhepunkt des Nomadenlebens war nämlich jene Saison, bei der die Menschen mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack zu neuen Weidegründen fürs Vieh umsiedelten.

Ich erinnere mich lebhaft an diese Zeit, denn sie zog uns Kinder ganz besonders in ihren Bann. Wenn die Bewegung zum Aufbruch einsetzt, geraten alle in eine gehobene, ja erregte Stimmung. Die Jurten werden zusammengetragen. Die Gerätschaften werden auf Kamele, Pferde und Ochsen gepackt. Und danach bricht die ganze Gemeinschaft der Nomaden mit ihren zahlreichen Viehherden aus Steppen und Vorbergen in die Richtung der hohen schneeweißen Bergriesen auf. Sie ziehen über die Pässe hin zum Dshajloo, den sommerlichen Weidegründen im Hochgebirge.

Das Nomadenlager ist ein wohlgeordnetes System, man musste alles vorke