1. KAPITEL
Es war nicht so, dass sie nicht nach Frankreich zurückgehen wollte, tatsächlich wünschte sie es sich sogar. Als der Chauffeur den Wagen durch das Tor zum Manoir fuhr, an das sie sich nur noch vage aus ihrer frühen Kindheit erinnerte, hatte Natasha de Saugure aber plötzlich gemischte Gefühle: Sie hätte auf die Bitte ihrer Großmutter früher eingehen sollen.
Die Vergangenheit zwischen ihnen beiden hatte Natasha davon abgehalten. Jetzt hoffte sie, dass es nicht zu spät war. Ihre Großmutter hatte am Telefon sehr schwach geklungen. Aber Natasha konnte von ihrer Arbeit bei einer Hilfsorganisation in Afrika nur schwer Urlaub nehmen. Sie und ihre Kollegen versuchten verzweifelt, hungernde Mütter und Kinder zu retten. Natasha war es ihnen schuldig, vor Ort zu sein.
Der Wagen fuhr über den Kiesweg und hielt schließlich an. Durch das offene Fenster roch Natasha den Duft von frischem Lavendel und Thymian. Sie war sich jetzt sicher, dass ihre Reise hierher richtig gewesen war.
„Voilà, Mademoiselle.“ Der Fahrer stieg aus dem Auto und öffnete ihr die Tür.
„Merci.“ Natasha erwiderte sein Lächeln. Sie verließ den Wagen, strich sich schnell das aschblonde Haar glatt und blickte zur steinernen Fassade des Manoirs hinauf. Es hatte an jeder Ecke ein rundes Türmchen, das Dach war mit Schindeln gedeckt, und Efeu rankte sich an den jahrhundertealten Mauern empor. Sie seufzte. Es war viele Jahre her, seit sie ihre Großmutter das letzte Mal gesehen hatte. Weil ihr Vater außerhalb seines Standes geheiratet hatte, war es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen der alten Dame und ihrem Vater gekommen.
Plötzlich öffnete sich die große Eingangstür, und ein alter weißhaariger Mann in Uniform erschien auf den Stufen.
„Bienvenue, Mademoiselle“, sagte er, und ein Lächeln erhellte sein zerfurchtes Gesicht. „Madame wird sich freuen, Sie zu sehen.“
„Bonjour, Henri“, erwiderte Natasha. Ihre Mutter hatte ihr von dem alten Butler erzählt. Sie betrat die mit großen Steinplatten ausgelegte Eingangshalle und betrachtete neugierig die hohen Decken und Türen, die in ein wahres Labyrinth an Räumen zu führen schienen.
Noch immer quälte sie die Frage, weshalb ihre Großmutter nach all den Jahren der Funkstille nach ihr verlangt hatte. Ihr Brief verriet nur wenig. Und auch am Telefon hatte nichts in der gebieterischen Stimme ihrer Großmutter darauf hingedeutet, dass sie ihre Haltung geändert hatte. Trotzdem hatte sie auf ihren Besuch bestanden.
Im ersten Moment hatte sie die Einladung ausschlagen wollen. Doch sie wusste, dass sie kommen musste. Trotz allem in der Vergangenheit Vorgefallenen – sie war nach dem Tod ihrer Eltern die einzig lebende Verwandte der alten Dame.
Mehr als zwanzig Jahre waren seit ihrem letzten Besuch in der Normandie vergangen, doch vieles fühlte sich vertraut an: die Gerüche, das Licht, das durch die hohen Fenster flutete und auf den Wänden spielte. Und da war noch etwas, das sie aber nicht klar fassen konnte.
„Madame erwartet Sie oben im kleinen Salon“, verkündete Henri.
„Dann gehe ich am besten gleich zu ihr.“ Natasha lächelte. Die seltsam formelle Situation gab ihr das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein.
Der Butler verbeugte sich leicht und führte sie die breite Marmortreppe hinauf. Natasha bemerkte, dass ihm der Aufstieg nicht leicht fiel. Sie wollte ihn gerade nach dem Weg fragen, als ihr in den Sinn kam, dass sie damit gegen die Etikette verstieße. Henri hatte sein ganzes Leben lang hier gearbeitet und würde sich jede Abweichung von den strengen Regeln ihrer Großmutter zu Herzen nehmen.
Schließlich standen sie vor einer weißen Tür. Henri klopfte und öffnete sie dann vorsichtig. „Sie erwartet Sie“, sagte er leise.
Natasha schluckte. Plötzlich schien ihr die Begegnung nicht mehr so einfach wie noch vor ein paar Tagen in Karthum. Von Natur aus war sie ein mitfühlender Mensch, doch die Art, wie ihre Großmutter den eigenen Sohn aus ihrem Leben verbannt hatte, hatte sie gegenüber der alten Frau misstrauisch werden lassen.
Nun gab es kein Zurück mehr. Natasha f