: Kathrin Burger
: Foodamentalismus Wie Essen unsere Religion wurde
: riva Verlag
: 9783745305692
: 1
: CHF 11.60
:
: Ernährung
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Essen als Religionsersatz? Essen nimmt einen immer größeren Stellenwert in unserem Leben ein. Ob vegan, paläo, clean, glutenfrei oder komplett ohne Kohlenhydrate, immer mehr Menschen definieren sich über ihre Ernährung. Keine Essenseinladung und kein Restaurantbesuch mehr ohne Sonderwünsche und immer neue Einschränkungen. Andersgläubige werden schnell verurteilt, in den sozialen Medien herrscht ein regelrechter Krieg zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und die Angst vor bestimmten Lebensmitteln greift um sich. Das soziale Leben bricht zusammen, es werden Klassen- und Geschlechterkämpfe geführt und die Gesellschaft spaltet sich! Wird es wirklich so weit kommen? Die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Burger geht dem Phänomen »Foodamentalismus « auf den Grund und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der Ernährung und ihren Status in unserer Gesellschaft.

Kathrin Burger hat Ökotrophologie studiert und ist freie Wissenschaftsjournalistin. Sie schreibt für diverse Zeitungen, Zeitschriften und Online-Medien wie Süddeutsche Zeitung, taz oder spektrum.de über Ernährung, Gesundheit und Umwelt und ist Autorin mehrerer Bücher. Sie lebt in München.

Kapitel 2


Wie konnte es so weit kommen?

Am Ende des Tages stellen wir uns bewusst kritisch die Frage, wie es so weit kommen konnte. Wie ist es möglich, dass so viele unterschiedliche Ernährungsweisen populär sind, obwohl sie teilweise auf hahnebüchenen und völlig konträren Überlegungen basieren? Wie kann es sein, dass Menschen ohne ernährungswissenschaftlichen Hintergrund eine so große Fangemeinde um sich versammeln können? Wie kommt es, dass immer mehr Menschen meinen, bestimmte Nahrungsmittel wie Milch oder Brot seien nicht bekömmlich oder sogar giftig? Und warum haben diese Themen eine so große Wichtigkeit erlangt?

Uns fehlen Religion und moralische Autoritäten


Tatsächlich sind die Gesellschaften in industrialisierten Nationen von einer zunehmenden Glaubensleere und damit einem Mangel an Ritualen und Gemeinschaft erfüllt. Denn die Religionen lieferten nicht nur Antworten auf viele transzendentale Fragen und unerklärliche Dinge, früher organisierte die Kirche auch Lebensbereiche, die nichts oder nur am Rande mit Religion zu tun hatten, wie Kolpingvereine, Wallfahrten und Bildungsaktivitäten. Sie dienten also auch als sozialer Kitt, um Bevölkerungsgruppen ein Gefühl des Zusammenhalts zu geben. 1960 war noch fast jeder Deutsche katholisch oder evangelisch, heute sind es nur etwas mehr als die Hälfte – konkret: es gibt derzeit rund 26 Prozent evangelische und 28 Prozent katholische Christen[272]. Und von diesen gehen immer weniger in die Kirche oder pflegen religiöse Praktiken wie Gebete oder Pilgerreisen. Noch weniger Gläubige findet man etwa unter den Vegetariern. Laut einer Studie der Universität Jena sind nur 23 Prozent evangelisch und 17 Prozent katholisch[273].

Die Aussagen von bestimmten Kirchenvertretern zu Themen wie Homosexualität oder Abtreibung missfallen vor allem jüngeren Menschen, weswegen sie sich zunehmend von der Kirche abwenden. Und auch die Missbrauchsskandale und deren nur unzureichende Aufarbeitung sind Gründe, warum die Kirche nicht mehr als moralische Instanz infrage kommt. Obendrein werden immer weniger Deutsche gemäß einer christlichen Glaubenslehre erzogen[274]. »Zudem verharrt die Kirche in einer hierarchischen Kommunikationsstruktur des Senders und Empfängers«, so meint Rochus Winkler, Psychologe von concept m. »Der moderne Mensch ist jedoch aufgeklärt, gut informiert, kritisch und kommuniziert vor allem in sozialen Netzwerken ohne Hierarchien. Und hier halten die Kirchen nicht mit.«[275]

Aber auch andere moralische Autoritäten wie Intellektuelle, Wissenschaftler, Ärzte, Journalisten und Politiker genießen kein Vertrauen mehr und werden von ihren Sockeln gestoßen. An ihre Stelle treten Sportler, Schauspieler, Popstars, Internetmilliardäre, Köche oder selbst ernannte Gesundheitsgurus. Diese werden angebetet und vergöttert. Vor allem die Köche treten wahlweise als Propheten, Beichtväter, Sozialreformer, als Ratgeber im Kampf gegen das schlechte Gewissen oder als Welthungerexperten auf, wie Jens-Christian Rabe in derSüddeutschen Zeitung anmerkte[276]. »Es geht bei Nigel Slater& Co. um viel mehr als die Frage, wie man ein Ei technisch einwandfrei pochiert. Es geht ums große Ganze: das richtige Leben in einer falschen Welt.«

Denn das religiöse Bedürfnis ist da, der Wunsch nach Diskussionen über Ethik und Moral, der Wunsch nach Identität und Zugehörigkeit. Die Religion bot den Menschen zudem eine Möglichkeit, sich mit Heiligem oder Transzendentalem zu verbinden un