: H.G. Wells
: Meistererzählungen
: Diogenes
: 9783257609257
: 1
: CHF 13.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
H. G. Wells, nach und mit Jules Verne Vater und Meister der Science-Fiction und Weltfriedensphilosoph, hat Erzählungen von beispielhafter utopischer Dichte und Hellsicht geschrieben. In den fantastischen Dimensionen der Zukunft und der Vergangenheit ist das Alltägliche vom Wunderbaren nicht zu trennen. Wells entführt die Leser:innen in atemberaubende neue Welten.

H.G. Wells wurde 1866 in Bromley bei London geboren. Er studierte Naturwissenschaften und war Mitbegründer der Royal College of Science Association. Nach einer Lungenblutung, die ihn zu ausschließlich sitzender Tätigkeit zwang, widmete er sich vermehrt dem Schreiben - sowohl wissenschaftlicher wie fiktiver Werke. Wells war einer der Ersten, der Phänomene wie Zeitreisen und die Invasion der Erde durch Wesen aus dem All in die Literatur einführte und so die Entwicklung der Science-Fiction-Literatur entscheidend prägte. H.G. Wells starb 1946 in London.

{7}Die seltsame Orchidee


Beim Kauf von Orchideen spielt immer ein gewisser spekulativer Reiz mit. Man hat das braune, geschrumpfte Knollengewebe vor sich, und im übrigen muß man auf sein Urteil vertrauen, auf den Auktionator oder auf sein Glück, je nach Neigung und Geschmack. Die Pflanze kann am Absterben oder schon verdorrt oder einfach ein vorteilhafter Kauf sein, vielleicht aber – denn dies ist wiederholt geschehen – entfaltet sich vor den entzückten Augen des glücklichen Besitzers langsam, Tag um Tag, eine neue Art, eine ungewohnte Fülle, eine seltsame Biegung der Blütenlippe, die zartere Färbung oder eine unerwartete Mimikry. Stolz, Schönheit und Gewinn blühen zusammen an einem feinen grünen Trieb, manchmal sogar Unsterblichkeit. Und wenn das neue Naturwunder einen eigenen Namen braucht, was wäre da so naheliegend wie der Name seines Entdeckers? »Johnsmithia«! Es gibt schlechtere Namen.

Es war vielleicht die Hoffnung auf eine glückliche Entdeckung, die Winter-Wedderburn zu einem so häufigen Besucher dieser Auktionen machte – die Hoffnung und auch die Tatsache, daß er auf dieser Welt nicht irgendeiner nützlichen Beschäftigung nachging. Er war ein schüchterner, einsamer, eher erfolgloser Mann, sein Einkommen reichte gerade aus, um ihm das Notwendigste zu beschaffen, aber er besaß nicht genug geistige Energie, um sich eine anspruchsvolle Tätigkeit zu suchen. Er hätte Briefmarken oder Münzen sammeln, Horaz übersetzen oder Bücher binden oder eine neue Art von Kieselalgen erfinden können. Doch wie es sich traf, züchtete er Orchideen, und sein Ehrgeiz war ein kleines Gewächshaus.

»Ich habe das Gefühl«, sagte er beim Kaffee, »daß mir heute etwas zustoßen wird.« Er sprach – so wie er sich bewegte und dachte – langsam.

{8}»Oh, sagdas nicht!« sagte seine Haushälterin, die auch seine entfernte Kusine war. Denn »etwas zustoßen« war eine Beschönigung, die für sie nureine Bedeutung hatte.

»Du verstehst mich falsch. Ich meine nichts Unangenehmes … obschon ich kaum weiß, was ich meine. Heute«, fuhr er nach einer Pause fort, »verkaufen Peters eine Anzahl Pflanzen von den Andamanen und aus Indien. Ich werde hingehen und schauen, was sie haben.« Er reichte ihr seine Tasse zum zweitenmal.

»Sind das die Sachen, die jener bedauernswerte junge Mann sammelte, von dem du mir kürzlich erzählt hast?« fragte seine Kusine, als sie den Kaffee eingoß.

»Ja«, sagte er, in Gedanken verloren über einer Scheibe Toast.

»Mir passiert nie etwas«, bemerkte er kurz darauf und begann laut zu denken. »Ich möchte wissen, warum? Anderen Leuten passiert immer etwas. Zum Beispiel Harvey. Erst letzte Woche am Montag hob er ein Sixpencestück auf, am Mittwoch hatten alle seine Küken den Hühnerwurm, am Freitag kehrte seine Kusine von Australien zurück, und am Samstag brach er sich das Bein. Was für ein aufregender Wirbel! – verglichen mit mir.«

»Ich glaube, ic