: Ariadne von Schirach
: Die psychotische Gesellschaft Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
: Tropen
: 9783608115260
: 1
: CHF 8.90
:
: Gesellschaft
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Angesichts einer immer verrückter werdenden Gegenwart ist es an der Zeit, uns wieder an unsere Würde, unsere Träume und unsere Verantwortung für unser eigenes und gemeinsames Leben zu erinnern. »Die psychotische Gesellschaft« ist eine hellsichtige Analyse unserer ökonomisierten Gesellschaft und zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für einen anderen Umgang mit Natur, Menschsein und Liebe. Selbstmordattentäter, Geflüchtete und populistische Präsidenten. Und dann spielt auch noch das Klima verrückt. Dieser krisenhafte Zustand hat viele Gründe. Die Ökonomisierung der Welt hat sich im 21. Jahrhundert fast vollendet. Sie betrifft schon lange nicht mehr nur das Sichtbare, sondern reicht tief in das Unsichtbare hinein: in das Soziale, in den Umgang mit uns selbst, den anderen und der Welt. Der Selbstwert ist zum Marktwert geworden, die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen. Das Resultat dieser kollektiven Identitätskrise ist eine psychotische Gesellschaft, deren Mitglieder weder wissen, wer sie sind, noch was sie sollen, und deshalb unfähig sind, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen. Doch jede Krise trägt in sich die Möglichkeit einer neuen Ordnung, sie ist eine Chance, unser Verhältnis zu uns, den Anderen und der Welt neu zu erzählen.

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Zudem arbeitet sie als freie Journalistin und Kritikerin. Sie wurde bekannt als Autorin der Sachbuch-Bestseller »Der Tanz um die Lust« (2007) und »Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst« (2014). »Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden« (2020) bildet als dritter Teil den Abschluss dieser Trilogie des modernen Lebens. 2016 veröffentlichte sie das psychologische Fachbuch »Ich und Du und Müllers Kuh. Kleine Charakterkunde für alle, die sich und andere besser verstehen wollen«. Auch ihr im Herbst 2021 erschienenes, neuestes Buch »Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen« war ein Spiegel-Bestseller. 

I Vom unbestimmten Tier


Das westliche Haus


Vor dem südlichen Balkon auf der kleinen spanischen Vulkaninsel, wo ich für eine Weile lebte, erstrecken sich einige sanft geschwungene Hügel, und in den Wochen meines Hierseins haben wir uns ein wenig angefreundet. Die Hügel sind rot, grün und gelblich im Morgenlicht, braun-ockerfarben am Nachmittag und schwarz und zackig in der Abenddämmerung, die ihre Gestalt wie durch ein Wunder in ferne Pyramiden verwandelt.

Form und Farbigkeit dieser Hügel endgültig zu beschreiben wäre ein ebenso vergeblicher wie poetischer Prozess, und schon der Gedanke daran lässt erahnen, wie es um das Verhältnis von Mensch und Welt bestellt ist: hier das immerwährende Spiel von Licht und Schatten, Werden und Vergehen, dort der Mensch, der alles erfassen, ordnen und verstehen möchte. Wir wohnen in diesem Begreifen. Das immerwährende Beschreiben und Abbilden der Welt ist unser »Haus«, ein Ort, an dem eine uns zuträgliche Atmosphäre herrscht, ein Ort, an dem wir das, was ist, bezeichnen und unterscheiden können und dadurch uns und unser Dasein verstehen.

Etwas auf eine lebbare – und deshalb noch lange nicht »allgemeingültige« oder gar ethisch »richtige« – Weise zu verstehen heißt, sich für einen bestimmten Blick zu entscheiden und dafür einen anderen Aspekt des Ganzen aus dem Blick zu verlieren. Eine Kultur ist die Summe dieser Entscheidungen; ihre wie Häuserwände gezogenen Ein- und Ausschlüsse, Gebote und Verbote ordnen und gewichten die Mannigfaltigkeit des Lebens und geben ihren Bewohnern dadurch einen bestimm