Kapitel 1
Die Sonne glänzte auf den Scheiben und schickte prismabunte Lichtstreifen durch das Wageninnere, während ich versuchte, mich zu dehnen und damit den Jetlag zu vertreiben. Der Chauffeur hielt vor einem Wohnhaus in einer Nebenstraße der Champs-Élysées. Mit vor Übermüdung geröteten Augen betrachtete ich ehrfürchtig das eindrucksvolle Gebäude, in dem ich wohnen würde: Balkone mit schmiedeeisernen Gittern und kunstvoll ummauerte Fenster, deren Läden weit geöffnet waren, um die sommerliche Brise einzulassen. Aus den Blumenkästen reckten Pflanzen ihre üppigen roten Blüten der Sonne entgegen.
Undhier sollte ich tatsächlich wohnen? Das Haus unterschied sich so sehr von der Farm meiner Familie in Michigan, dass es auch auf einem anderen Planeten hätte liegen können. Das Schicksal meinte es wirklich gut mit mir.
»Mademoiselle«, sagte der Fahrer in wunderbar weichem Französisch, »Madame Leclère erwartet Sie am Eingang.«
»Vielen Dank, Monsieur.«
Er stieg aus, öffnete mir die Autotür, nahm meine Tasche und begleitete mich zum portalartigen Hauseingang.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte er mit deutlich französisch gefärbtem Englisch nach.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich habe alles. Vielen Dank für die Fahrt.« Ich winkte ihm nach, während er mit einem Hupen davonsauste und dabei ein paar überraschte Passanten erschreckte. Nach dem, was ich bisher gesehen hatte, fuhren alle Franzosen, als würden sie für das nächste 24-Stunden-Rennen in Le Mans üben.
Nach einem Blick auf die Uhr schaute ich nach oben. Ein Vorhang im ersten Stock bewegte sich, als würde dahinter jemand stehen. Madame Leclère? Ich griff nach meinem Koffer und wartete, während nun doch ein paar Zweifel in mir aufstiegen.
Was, wenn ich mich mit dieser Sache völlig übernommen hatte? Wenn die anderen Teilnehmer mit ihren offiziellen Ausbildungen und Chemiediplomen allesamt mehr wussten als ich? Was, wenn … Nein, Schluss damit!, wies ich mich selbst zurecht. Ich konnte genauso viel wie jeder andere auch, wenn nicht sogar mehr. Zugegeben, ohne Nan fiel es mir etwas schwerer, neue Duftformeln zu erstellen, aber ich war sicher, dass das nur eine Phase war und ich mit meiner Geheimwaffe – Nans verlässlicher Parfümbibel – bald wieder meine alte Form erreichen würde. Und zwar mit Leidenschaft, Begeisterung und dem Willen, es zu schaffen.
Vor allem war ich von Herzen froh, dem Tratsch und der Enge meines Heimatortes Whispering Lakes zu entkommen.
Das Auswahlverfahren für denLeclère-Parfümwettbewerb war sehr streng gewesen, mit Tests auf jedem Gebiet der Parfümerie. Ich hatte Videos aufgenommen, Duftproben eingeschickt, mich per Skype von der Jury über Parfümregionen und -herstellung, Mischverfahren, Extraktionstechniken, Reifung und Verkaufsstrategien ausfragen lassen. Als ich zu Anfang erklärte, ich würde Parfüms auch als Heilmittel gegen viele Arten von Beschwerden einsetzen, hatten sie etwas irritiert gewirkt, so dass ich lieber dazu übergegangen war, sie mit den geheimen Rezepturen zu umwerben, die ich