1 Das letzte Glied der Kette
Fidelis kam nach zwölf Tagen Fußmarsch aus dem großen Krieg nach Hause, kroch in sein Bett im Kinderzimmer und schlief sechsunddreißig Stunden fest durch. Als er Ende November 1918 aufwachte, war er nur wenige Zentimeter davon entfernt, auf der von Clemenceau und Wilson umgezeichneten Landkarte Franzose zu werden, was ihm in diesem Moment weniger wichtig war als die Frage, was es wohl zu essen geben würde. Er schob das weiße Federbett zur Seite, das seine Mutter, seit er sechs war, jedes Jahr im Frühling lüftete und neu füllte. Obwohl sie immer wieder versuchte, durch kräftiges Schrubben die Spuren einer blutigen Nase zu tilgen, die er sich mit dreizehn geholt hatte, war der Fleck noch da, zu einem hellen Teebraun verblaßt und anzusehen wie ein ausgefranstes Nest. Fidelis roch Essen, einen leichten Hauch zwar nur, der ihn aber hoffnungsvoll stimmte. Kartoffeln vielleicht. Ein bißchen Quark. Ein Ei? Ein Ei wäre nicht schlecht. Das Bett war breit, weich und nach den vielen elenden Lagerstätten der letzten drei Jahre ein so unglaublicher Luxus, daß ihn beim Hinlegen eine Gänsehaut überlief. Das leise, glückliche Weinen seiner Mutter hatte ihn in den Schlaf begleitet. Auch jetzt noch meinte er sie weinen zu hören, aber es war das Sonnenlicht, das mit perlendem Laut, einer weiblich-gefühlvollen Melodie über die elfenbeinfarbenen Wände wanderte.
Nach einer Weile kam er zu dem Schluß, daß er das Licht singen hörte, weil er sauber war. Irritierend sauber. Vor zwei Tagen hatte er nicht gleich ins Haus kommen wollen, sondern darum gebeten, in einem Waschzuber auf dem kleinen überdachten Hof unter der Weinlaube zu baden. Man schürte ein Feuer und machte Wasser heiß. Seine Schwester Maria Theresa las ihm die Läuse aus dem Haar, und sein Vater brachte sauberes Zeug. Um auszuhalten, was der Krieg mit sich brachte, auch den eigenen Schmutz, hatte Fidelis seine Sinne abgeschaltet. Als er sich jetzt der Welt wieder öffnete, empfand er alles, was um ihn herum vorging, beängstigend intensiv, alle Gegenstände waren voller Gefühl und Leben – wie in einem sehr lebhaften Traum.
Die Stille in seinem Kopf dröhnte. Ganz gewöhnliche Geräusche, Passanten draußen auf der Straße, kamen ihm wundersam vor wie das Schnattern seltener Affen. Ein Glücksschauer überlief ihn. Schon das Anziehen der sauberen, ungezieferfreien Sachen war etwas so Großartiges, daß ihm fast die Tränen kamen, als er die goldenen Manschettenknöpfe mit dem Eberkopf schloß, die seinem Großvater gehört hatten. Flach atmend sammelte er sich und brachte kraft seiner Ruhe die Tränen zum Versiegen. Seit der Kinderzeit hatte er, wenn er traurig war, flach geatmet und war in Reglosigkeit verfallen. Als Rekrut hatte er von Anfang an gewußt, daß diese Begabung, völlig zur Ruhe zu kommen, der Schlüssel zu seinem Überleben war. Sie hatte denn auch den unerfahrenen jungen Soldaten durch den Krieg gebracht, weil sich sehr schnell herausstellte, daß er von einer Scharfschützenstellung aus auf hundert Meter Entfernung einem Mann ein Auge durchbohren und mit fünf Schuß drei Treffer landen konnte. Auch jetzt noch würde er wachsam sein müssen. Erinnerungen würden sich anschleichen, Emotionen sein Denken sabotieren. Es war nicht ungefährlich, wieder ins Leben zurückzukehren, nachd