Erstes KapitelTräge Taube
Pock pock. Pock pock pock.
Simon Thorn schlug die Augen auf. Er lag in einem Schlafsack auf dem Boden, atmete schwer und blinzelte ins erste Morgenlicht. Gerade noch war er mitten im Traum gewesen, und je mehr er sich bemühte, ihn zurückzuholen, desto schneller entglitt er ihm. Dabei schien der Traum wichtig gewesen zu sein. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er etwas Dringendes erledigen musste, bevor es zu spät war.
Pock. Pock pock pock.
»Kannst du deinen blöden Tauben bitte ausrichten, dass sie uns um sechs Uhr morgens in Ruhe lassen sollen?«, knurrte Winter im Bett auf der anderen Seite des vollgestopften Raums, der eigentlich Simons Zimmer war. Besser gesagt,gewesen war, als er noch mit seinem Onkel Darryl in dieser Wohnung gewohnt hatte, damals, im September. Doch jetzt war Mai, und seitdem hatte sich weit mehr verändert als nur die Jahreszeit.
Pock. Pock pock. Pock pock pock.
Winter stöhnte und zog sich das Kissen über den Kopf. »Wenn du sie nicht sofort wegschickst, schnappe ich sie mir und verwandle sie in –«
»Taubenpfannkuchen?«, schlug Simon vor und rappelte sich auf. Winter spähte unter ihrem Kissen hervor und rümpfte die Nase.
»Igitt, nein! Pfannkuchen mit Taube?«
»Vergiss es«, murmelte Simon. Er wankte zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Auf dem Fensterbrett vor der Feuerleiter scharten sich bereits mehr als ein Dutzend Tauben und drängten eifrig nach vorn.
»Futter?«, gurrte eine etwas träge Taube, die, da war Simon sicher, jeden Morgen kam. Seufzend holte er ein paar Scheiben Brot aus einer Dose auf seinem Tisch, warf sie auf den Vorsprung und schaute missmutig zu, wie sich die Tauben gierig darüber hermachten.
»Du musst da nicht hingehen, weißt du«, sagte Winter mit vom Kissen gedämpfter Stimme. »Es wird nichts da sein. Genauso wenig wie gestern etwas da war oder morgen etwas da sein wird.«
»Kann schon sein«, sagte Simon. »Trotzdem.«
Winter knurrte in ihr Kissen. »Na schön. Wenn du unbedingt gehen willst, dann geh. Aber ich rieche Kaffee, irgendjemand ist also schon wach, und diesmal gebe ich dir keine Rückendeckung.«
Natürlich würde sie ihm Rückendeckung geben – das tat sie immer, jeden Morgen, an dem sie in der Wohnung erwachten, von der er eigentlich geglaubt hatte, dass er sie nie wieder betreten würde. Simon nickte. Er schloss die Augen, stellte sich eine Taube vor, und sein Körper begann zu schrumpfen.
Das ging mittlerweile so schnell, dass er kaum noch merkte, wie die Federn aus seiner Haut wuchsen und wie sich seine Arme in Flügel und seine Füße in Krallen verwandelten. Nicht einmal die Veränderung seines Sehsinns, der ihm nun eine Rundumsicht gewährte, versetzte ihn