1. Kapitel
Wir sind alle böse – auf die ein oder andere Art.
Das hatte der Night Stalker gesagt. Obwohl Dr. Evelyn Talbot den Serienmörder Richard Ramirez nie persönlich getroffen hatte und ihr diese Möglichkeit nun verwehrt war, denn er war 2013 an Krebs gestorben, hatte sie doch Videoaufzeichnungen der Verhöre gesehen, die andere mit ihm geführt hatten. Auf Evelyn wirkte es, als habe Ramirez diese Perle der Weisheit direkt in die Kamera gesprochen und gehofft, dabei tiefgründig zu wirken – tiefgründiger, als er in Wirklichkeit war.
Das geschah sehr häufig. Viele Psychopathen, die sie untersuchte, gaben vor, etwas Besonderes und Außergewöhnliches zu sein. Die meisten von ihnen waren jedoch nicht schlau genug, diese Farce durchzuziehen. Selbst jene, die gestorben waren, bevor sie geschnappt und für ihre Verbrechen bestraft werden konnten, hatten dies nicht aufgrund ihrer hohen Intelligenz geschafft. Oft war es pures Glück gewesen – sie hatten ihren angeborenen Überlebensinstinkt ausgenutzt oder die Polizei hatte nachlässig gearbeitet. Andere wiederum sahen aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun – wie Jeffrey Dahmer oder Ted Bundy.
Doch der frisch verurteilte Lyman Bishop, ein neuer Insasse, den sie soeben kennengelernt hatte, brachte sie weit mehr aus der Fassung als all ihre anderen Patienten. Er war brillant und äußerst berechnend – Evelyn schnitt eine Grimasse in Richtung der Fotos, die aus der geöffneten Krankenakte neben ihrem Ellbogen hervorragten. Vor allem aber war er gänzlich unerschrocken in seiner Brutalität. Man nannte ihn den Zombiemacher, und das aus gutem Grund.
Sie nahm die Brille ab, die sie zuweilen trug, um ihre Augen nicht zu übermüden, legte den Kopf an die Stuhllehne und starrte zur Decke ihres Büros hinauf. Es war noch nicht einmal Mittag, doch sie fühlte sich, als habe sie bereits den ganzen Tag gearbeitet. Gestern Abend war sie lange aufgeblieben, um ihre erste Sitzung mit Lyman Bishop vorzubereiten. Sie musste ihm, wann immer möglich, einen Schritt voraus sein, denn sonst würde er sie verachten, anstatt Respekt vor ihr zu empfinden. Sollte das geschehen, konnte sie ihn ebenso gut in eine andere Einrichtung verlegen lassen, denn dann würde er ihr in Hanover House nichts nützen. Falls es ihr nicht gelang, irgendeine Art von Beziehung zu ihm zu entwickeln, würde sie nie erfahren, wer er wirklich war.
Stattdessen würde er nur seine Spielchen mit ihr spielen. Wahrscheinlich würde er das ohnehin versuchen.
Seufzend setzte Evelyn die Brille wieder auf und fuhr fort, ihre Gedanken und Eindrücke in den Computer zu tippen. Obwohl sie für gewöhnlich jeden neuen Insassen bei seiner Ankunft in Hanover House persönlich begrüßte, war ihr das gestern nicht möglich gewesen. Sie war mit Amarok, ihrem Freund und dem einzigen Polizisten, den Hilltop zu bieten hatte, nach Anchorage gefahren, um dessen kranken Vater zu besuchen. So hatte Lyman Bishop seine erste Nacht, die