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Erschöpft vom langen Flug trat ich auf das Rollfeld von Lambert Field, das noch die Mittagshitze abstrahlte. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um den heißen Asphalt zu küssen. Ich wusste kaum, wer ich war und was aus mir werden sollte. Den größeren Teil meiner Jugend hatte ich in einem Internat am Niederrhein verbracht, wo ich lateinische Grammatik und Judo gelernt hatte und sonst beinahe nichts. Nach dem Abitur zog ich ein paarmal um, wohnte einige Monate auf einem Bauernhof bei Kleve und studierte vier Semester lang lustlos an der Kölner Universität. Dann: Missouri.
Bereits als Schüler hatte ich ein halbes Jahr in Amerika verbracht, in einem kleinen Ort namens Ridgefield im Nordwesten des Landes. Mein damaliger Gastvater Steve war ein Trompete spielender Pastor einer winzigen Baptistengemeinde. Unter der Woche jobbte er als Baggerfahrer. Wenn mich niemand beobachtete, spielte ich auf der Orgel in der kleinen, weiß geschindelten Kirche neben dem Haus Tom-Waits-Lieder. Im Windfang des Drogeriemarkts, dem einzigen Laden im Ort, spielte ich an einem Automaten Frogger, abends schrieb ich lange Briefe an Ulrike, die in einem Architektenhaus am Ende unserer Straße aufgewachsen war. Christie, meine Gastmutter, bemühte sich, mich zu verstehen, sie stellte mir Fragen und hörte mir zu. Mehr als jeder andere spürte sie das Ausmaß meiner Verwirrung. Sie nahm mich mit zum Einkaufen, sie stellte mich ihren Freunden vor. Steve lieh mir sein Remington-Gewehr, auf dessen Schaft ein Pax-Christi-Zeichen prangte. Ich schoss, bis das junge, biegsame Bäumchen, an das ich die Zielscheibe geheftet hatte, langsam und lautlos kippte. Ich war der einzige Junge im Kunst- und Kalligrafiekurs, wo ich Bilder von Grant Wood und Norman Rockwell kopierte. Die Lehrerin nannte michhon oderhoney und legte mir die Hand auf die Schulter, wenn sie meine Arbeit an der Staffelei begutachtete. Ich lernte den Sohn eines philippinischen Oligarchen kennen, auch er ein Austauschschüler. Ich besuchte Disneyland und trank klebrigen Pfirsichlikör mit Steve. Als ich im Frühjahr 1982 ins Internat zurückkehrte, trug ich eine neue Welt in mir.
Sieben Jahre später war ich wieder in denUSA. St. Louis. Im Juli. Ein brütend heißer Sommernachmittag. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich nahm ein Zimmer im Best Western in der Nähe des Flughafens. Stella war zu diesem Zeitpunkt auf der Farm, saß irgendwo im Schatten und las. Natürlich wusste ich damals nichts von Stellas Existenz, doch möglicherweise spürte ich, dass sie in der Nähe war.
Ich sank auf das Bett und schlief sofort ein. Um drei Uhr wachte ich auf. Ich erinnere mich an ein gelbliches Licht, das durch die Vorhänge drang, von dem in nächtlicher Stille liegenden Flugfeld vielleicht oder der nahen Autobahn, deren Rauschen ich hörte. Mein Magen war übersäuert. Das Letzte, was ich zu mir genommen hatte, war ein winziges Mittagessen im Flugzeug, das mit winzigem Besteck und einem winzigen Becher Wasser serviert worden war. Ich zündete mir eine filterlose Pall Mall an, meine bevorzugte Marke damals. Rauchend lag ich auf dem Bett und dachte nach. Ich zitterte vor Hunger, Asche flockte auf meine dürre, haarlose Brust wie Schnee. Ich wischte die Asche fort, stand auf und zog mich an.
In einer Nische am Aufzug stand eine Eiswürfelmaschine neben einem Cola-Automaten neben einem Snack-A