Die Kraft der Berufung
Es herrscht eine drückende Hitze. Das ist normal zu dieser Jahreszeit, Mitte August:Ferragosto, die wohl heißesten Sommertage in der Ewigen Stadt. Es ist drei Uhr nachmittags. Zu dieser Stunde steht die Sonne praktisch im Zenit.
Der Heilige Vater hat mich für vier Uhr nachSanta Marta bestellt, und ich möchte etwas vorher da sein, um ihn nicht außer Atem oder mit schweißnassen Händen zu begrüßen. Außerdem hatte Franziskus mich daran erinnert, dass ich die vorgeschriebenen Kontrollen am Tor neben demSanto Uffizio passieren muss, um Zutritt zuSanta Marta zu bekommen. Ich betrete die Residenz des Papstes nicht zum ersten Mal und weiß, was mich erwartet. Ich möchte lieber rechtzeitig da sein für den Fall, dass irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht, und mich ein wenig auf dem Petersplatz aufhalten.
So mache ich mich also auf zum Vatikan, zu Fuß. Ohne Eile, in aller Ruhe. In der sengenden Hitze gehe ich durch die Straßen, etwas gedankenverloren und nervös. Vom ClaretinerkonventSanta Lucia del Gonfalone in derVia dei Banchi Vecchi braucht man nur fünf Minuten, um den Tiber zu überqueren und zum Petersplatz zu gelangen. Viele Gedanken kommen und gehen, vom Herzen zum Kopf und umgekehrt. Ich bin mir bewusst, dass diese erneute Begegnung mit Franziskus für mich etwas Besonderes sein wird, aber ich möchte sie nicht für mich selbst in Beschlag nehmen. Ich möchte sie genießen in dem klaren Bewusstsein, dass sie einfach nur ein weiterer Dienst ist, den ich meinen geweihten Brüdern und Schwestern leisten kann.
Zwei Monate zuvor hatte ich es gewagt, beim Papst um die Möglichkeit einer Begegnung mit ihm anzufragen, um »einzig und allein« über Fragen zu sprechen, die mit dem geweihten Leben verbunden sind. Weil er selbst es erwähnt hat,7 weiß ich, dass er in Buenos Aires Interviews eher vermieden hatte, weil er nicht wenige Male das Gefühl hatte, dass seine Antworten falsch interpretiert wurden, und das hatte ihm einige Probleme verursacht. Seine Antwort blieb also abzuwarten. Die Frucht des Gesprächs sollte als eigenes Buch veröffentlicht werden und auch als Vorwort zu einer spanischen Anthologie seiner lehramtlichen Beiträge zum Thema des geweihten Lebens vom Beginn seines Pontifikats dienen. So hatte ich es ihm vorgeschlagen, und zu meiner freudigen Überraschung nahm Franziskus diesen Vorschlag gerne an.
Es ist der 9. August. Von meinem Platz neben dem Obelisken, umgeben von Berninis majestätischen Kolonnaden, betrachte ich die vor mir liegende Basilika und bewundere die Schönheit dieses großen Symbols der Christenheit. Sie ist das Zentrum der katholischen Kirche. Hier lebt Petrus, der Fels. Und Petrus ist heute Franziskus, der mit aller Autorität von Rom her in der Universalkirche den »Vorsitz in der Liebe« hat. Den Medien entnehmen wir, dass er der wohl wichtigste Mensch im gegenwärtigen Weltgeschehen ist. Seine geistliche Führungsrolle auf globaler Ebene ist unbestreitbar. Und ich denke an ihn, an das, was er darstellt, an das, was in der Welt und in der Kirche geschieht. Die Verantwortung, an der Spitze einer Institution wie dieser zu stehen, die bereits über 2.000 Jahre alt ist, ist zweifellos beeindruckend. Nicht jeder wäre in der Lage, diese Verantwortung zu tragen. Ich bin überwältigt bei dem