: Rachel Kushner
: Ich bin ein Schicksal
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644001572
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Romy Hall tritt eine zweimal lebenslängliche Haft in der Stanville Women's Correctional Facility an. Draußen die Welt, von der sie nun abgeschnitten ist: San Francisco, wo ihr kleiner Sohn lebt. Drinnen Hunderte Frauen, die um das Nötigste zum Überleben kämpfen; ständiges Bluffen und Katzbuckeln und die beiläufige Gewalt durch Aufsichtspersonal wie Gefangene. Aber es gibt auch Hoffnung: einen noch an Ideale glaubenden Sozialarbeiter, der sich der jungen Frau annimmt. Kushner führt Romy in eine Welt ein, die sich in den USA zu einem mächtigen industriellen Komplex entwickelt hat. Dies ist ihr laufender Kommentar zum kulturellen und politischen Zerfall des 'Lands der Freien'. Er ist unsentimental, kritisch, mitfühlend und, vor allem, mitreißend.

Rachel Kushners Romane Flammenwerfer (2015), Telex aus Kuba (2017) und Ich bin ein Schicksal (2019) waren New-York-Times-Bestseller. Für ihr Werk wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet und war für den Booker Prize, den National Book Award, den National Book Critics Circle Award und den Folio Prize nominiert.Ihre Bücher sind in 27 Sprachen übersetzt. Rachel Kushner lebt in Los Angeles. Zuletzt erschien von ihr der Essayband Harte Leute (2022).

I


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Kettennacht ist einmal die Woche donnerstags. Einmal die Woche kommt für sechzig Frauen der entscheidende Moment. Einige von den sechzig erleben das wieder und wieder. Für die ist das Routine. Ich habe es nur ein Mal erlebt. Ich wurde um zwei Uhr früh geweckt, gefesselt und erfasst, Romy Leslie Hall, Insassin W314159, und zu den anderen in die Reihe gestellt, Aufbruch zu einer Nachtfahrt durchs Tal.

Als unser Bus das Gelände der Untersuchungshaftanstalt verließ, klemmte ich mich ans drahtverstärkte Fenster, um die Welt zu sehen. Viel Welt war da nicht. Unterführungen und Auffahrten, dunkle, menschenleere Alleen. Niemand auf der Straße. Es war ein so entrückter Moment der Nacht, dass die Ampeln nicht mehr von Grün auf Rot umsprangen, sondern nur noch gelb blinkten. Neben uns tauchte ein anderer Wagen auf. Er hatte keine Lichter. Ein dunkles Ding mit dämonischer Energie, das am Bus vorbeischoss. In der U-Haft war eine Frau bei mir im Trakt gewesen, die bloß fürs Fahren lebenslänglich bekommen hatte. Sie sei nicht die Schützin, sagte sie zu jedem, der ihr zuhörte. Sie sei nicht die Schützin. Sie habe nur am Steuer gesessen. Das sei alles. Sie hätten Nummernschilderkennung verwendet. Und Aufzeichnungen von Überwachungskameras. Was man darauf sah, war ein Wagen, der nachts eine Straße en