: Jens Balzer
: Das entfesselte Jahrzehnt Sound und Geist der 70er
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644100725
: 1
: CHF 13.00
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: Kulturgeschichte
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jens Balzer, einer der profiliertesten deutschen Kulturjournalisten, zeichnet ein farbiges Panorama der Siebziger, von der Mondlandung und Woodstock über die Ölkrise und den Deutschen Herbst bis hin zum Nihilismus des Punk. Ein Jahrzehnt, in dem sich so ziemlich alles ändert: Die Hippies erproben unerhörte Lebensweisen, die antiautoritäre Erziehung und die Emanzipationsbewegung ordnen die Familien- und Geschlechterverhältnisse neu, weltumspannender Idealismus trifft auf apokalyptische Weltuntergangsängste, und spätestens als Hacker den ersten 'Personal Computer' bauen, wird deutlich: Genau hier beginnt unsere Gegenwart. Jens Balzer zeigt überraschende Verbindungen, erzählt anschaulich und spannend und versetzt uns ganz in diese aufregende Zeit. x

 Jens Balzer, geboren 1969, ist Schriftsteller und Journalist im Feuilleton der «Zeit». Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. Balzer ist Autor hochgelobter Bücher, 2023 erschien  «No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit», eine «grandiose Kulturbetrachtung» (NZZ), «äußerst unterhaltsam und facettenreich» (SWR 2). Sein Essay «After Woke» stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von «Die Zeit», ZDF und Deutschlandfunk Kultur sowie auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. 

Teil IHinaus in die Weiten des Weltalls, hinein in die Tiefen der Seele: Die Utopien der Hippies und der Anbruch einer neuen Zeit (1969 bis 1970)


1. Kapitel


Leider doch kein so großer Schritt für die Menschheit: Die Mondlandung der Apollo 11 und das Woodstock-Festival

Menschen, wohin man auch schaut. Zwei gewaltige Massenversammlungen prägen den Sommer des Jahres 1969. Insgesamt anderthalb Millionen kommen im Abstand von wenigen Wochen zusammen, um jeweils einem utopischen Ereignis beizuwohnen; einem Ereignis, in dem die Versammlungsteilnehmer – jede Gruppe für sich – den Anbruch einer neuen Ära erkennen, wenn nicht gar: den Fortschritt der Menschheit auf eine nächsthöhere Evolutionsebene, auf eine Ebene, auf der die Angehörigen der Gattung nun endlich einsehen, dass es zwischen ihnen mehr Verbindendes als Trennendes gibt. Zweimal feiern im Sommer 1969 zwei unüberschaubare Mengen von Menschen den Beginn einer neuen und helleren Zukunft, den Eintritt einer lange ersehnten Hoffnung, den Beginn eines planetarischen Zeitalters; und beide Male handelt es sich um Utopien, die im Moment ihrer scheinbaren Realisierung schon wieder verloren sind. Diese Dialektik aus Utopie und Utopieverlust, aus der Sehnsucht nach einer erdumspannenden Gemeinschaft und der Vereinzelung der Menschen durch kollektive Enttäuschung wird für die siebziger Jahre prägend sein – insofern könnte man vielleicht sagen, dass die siebziger Jahre im Sommer 1969 beginnen.

Beide Massenversammlungen finden in ländlichen Gebieten an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika statt, die Teilnehmer reisen mit Autos an. Bei der ersten von beiden geht es äußerst zivilisiert und wohlgeplant zu, bei der zweiten herrscht hingegen das nackte Chaos. Zu der ersten Massenversammlung kommt das Publikum paar- oder familienweise in eigenen oder in gemieteten Wagen mit Campinganhängern oder in Wohnmobilen. Man zeltet oder campt ordentlich nebeneinander entlang der Sichtachsen, die einen freien Blick auf das erwartete Jahrhundertereignis erlauben. Die Menschen sitzen auf Plastikstühlen an Plastiktischen, sie trinken aus Plastikbechern und essen von Plastikgeschirr; sie schlafen in Plastikzelten in Schlafsäcken aus Plastik; sie genießen es, von all diesem Plastik umgeben, an der frischen Luft und im Grünen zu sein, und sie freuen sich alle gemeinsam auf das Spektakel, wegen dem sie sich hier in der Natur versammelt haben: den bislang größten Triumph, den die Menschheit in der Bezwingung der Natur zu verzeichnen hat; einen Triumph über die Schwerkraft; einen Triumph über die Beschränkung des Lebens auf jenen Planeten, auf dem dieses Leben entstanden ist. Die runde Million von Menschen, die sich an diesem Wochenende im Juli 1969 in Brevard County imUS-amerikanischen Bundesstaat Florida versammelt, wartet auf den Start der ersten bemannten Mondmission, Apollo 11.

Die zweite und kleinere der beiden Massenversammlungen findet einen Monat später und etwa zweitausend Kilometer weiter nördlich statt. Am 15. August kommt etwa eine halbe Million Menschen in Bethel imUS-Staat New York zusammen, um ein nach dem nahegelegenen Ort Woodstock benanntes Musikfestival zu feiern. Jimi Hendrix, Grateful Dead und Janis Joplin treten hier auf, Crosby, Stills& Nash und Country Joe McDonald, die Helden der amerikanischen Hippiekultur der späten sechziger Jahre; aber auch ein junger, noc