: Doris Knecht
: weg
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644100602
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwei, die nichts miteinander zu tun haben, auf einer Reise mit unbekanntem Ziel: Eine Frau und ein Mann, die sich kaum kennen und nicht besonders mögen, zwei Verschiedene, die ganz woanders und ganz unterschiedlich leben. Dieser Mann und diese Frau müssen sich gemeinsam auf die Suche machen, nach dem einzigen, was sie im Leben gemeinsam haben: eine Tochter. Schon erwachsen, aber mit psychischen Probleme. Und plötzlich verschwunden. Heidi verlässt ihr Kleinbürgerparadies bei Frankfurt, Georg seinen österreichischen Landgasthof, wo sie mit ihren neuen Familien leben. Im Flugzeug, auf Booten und auf Mopeds reisen sie durch Vietnam und Kambodscha den Hinweisen auf ihre Tochter hinterher. Die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, stecken auch in ihnen selbst, in ihrer Vergangenheit, in der Unfähigkeit, sich der Gegenwart zu stellen. Doris Knecht erzählt von Entscheidungen, deren Gewicht nie geringer wird, vom Festhalten und Loslassen, vom Erwachsenwerden und davon, wie man über sich selbst hinauswächst; ein bisschen wenigstens. Ein spannender Roman im kraftvollen Knecht-Sound, der zwei fast fremde Menschen auf eine gemeinsame Mission schickt, mit unsicherem Ausgang.

Doris Knecht geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin («Standard», «Falter») und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, «Gruber geht» (2011), war fu?r den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fu?rs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen die vielgelobten Romane «Wald» (2015) und «Alles u?ber Beziehungen» (2017); letzterer wurde fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. Doris Knecht lebt in Wien und im Waldviertel.

Heidi hat angerufen. Lotte ist irgendwie verschwunden. Georg war grad draußen, hinter dem Gasthaus, kurz eine rauchen, mal schnell raus aus der Küche, hinten durch die Tür, wo es zum Hühnerstall geht. Er rauchte und sah den Hühnern zu, die in der kargen, winterlichen Wiese herumpickten. Da hat sie angerufen. Das war komisch, ihren Namen auf dem Handy zu sehen, weil sie sonst eigentlich kaum mehr miteinander zu tun haben. Also, seit Lotte allein lebt. Heidi hat versucht, cool zu tun, aber sie ist offensichtlich besorgt, Georg hat das sofort herausgehört. Als es klingelte, zog er erst noch mal hastig an seiner Zigarette, bevor er den Anruf annahm: Er erinnerte sich sofort wieder an diese früheren, stressigen Heiditelefonate, er hatte sie sofort wieder präsent, diese Heidi, mit der er so viele Jahre zu tun hatte, es triggert in ihm schlagartig die alte Reiz-Reaktions-Kette, und er nimmt sofort eine innere Verteidigungshaltung ein. So war das immer: Sie will was, er muss etwas tun, etwas bezahlen, etwas unternehmen, wegen irgendwas auf Lotte einwirken, muss dringend etwas regeln. Georg muss sich um Lotte kümmern, sich gefälligst auch mal um seine Tochter kümmern. Auch jetzt praktizierte Georg, was er sich über die Jahre angeeignet hat: Durchatmen, durchatmen, durchatmen, ruhig bleiben, nicht aufregen, um Heidi dann ganz freundlich und gelassen zur Kenntnis bringen zu können, dass es Lotte ja gut geht, dass Lotte so gut wie erwachsen ist, dass man – Heidi – sich jetzt nicht mehr so umfassend um Lotte zu kümmern braucht. Was meistens nichts half. Aber wenn Georg zurückkeifte, fühlte er sich danach noch schlechter, also ließ er sie jammern, ihm ein schlechtes Gewissen machen, ließ sie Martin als Idealvater vorführen, als viel besseren, viel authentischeren Vater als ihn; authentisch: Das Wort verwendet sie ständig, mit fetten, knallenden Piefke-Ts darin, Deutsche, immer. Durchatmen, atmen, atmen. So liefen Gespräche mit Heidi normalerweise.

 

Diesmal nicht, kein Gequengel, kein Appell an sein Gewissen, nur Besorgtheit. Und die Frage: Kann er’s vielleicht auch mal bei Lotte probieren?, vielleicht antwortet sie ja bei ihm. Ja, wird er versuchen, es wird schon nichts sein, mach dir keine Sorgen, sie ist einfach ein junger Mensch in Berlin und treibt bestimmt bloß ein bisschen harmlosen Rambazamba.

Hinterm Hühnerzaun stellen zwei der Hähne sich gegeneinander auf, mit aufgeplusterten Hälsen, die Kämme steil nach vorn. Er drückt die Zigarette aus und verabschiedet sich: Ja, okay. Vielleicht. Ich meld mich, wenn ich was höre. Ich auch. Mach dir keine Sorgen. Okay, bis dann.

Er kann seinen Atem sehen, die Luft ist kalt, aus dem Bach steigt der Nebel auf und wirft einen Schleier über den Mischwald, der dahinter den Hang hochsteigt. Georg geht wieder hinein, legt sein Smartphone auf das Edelstahlregal. Rund um ihn herum dampft und zischt es, bald kommen die ersten Mittagesser in den Hirschen. Amelie und Steve hacken Gemüse und bereiten das Menü vor.

Heidis Anruf beschäftigt ihn: Offenbar geht Lotte nicht ans Telefon und antwortet auf keine Nachrichten. Seit Tagen schon. Sie macht sich Sorgen, nach allem, was war. Er macht sich auch Sorgen. So ein Scheiß. Er macht sich auch Sorgen.

Dabei sah es gerade seit einiger Zeit so aus, als sei alles gut, als braucht Lotte jetzt keine Kümmerer mehr, sie ist dreiundzwanzig, sie kriegt ihre Dinge selber geregelt. Ja, es war hart in den Jahren davor, für jeden, für sie selbst, für alle um sie herum. Es gab schwere Tage, schwierige Wochen, viel Sorge, blanke Angst. Die wilde Tochter, die nicht nur aufmüpfig, sondern ernsthaft krank ist. Das Kind, das man liebt