KAPITEL 1
Seelische Einsichten ohne Psychologie
Das Experiment der Wüstenmönche
Die christlichen Eremiten oderAnachoreten (griech. Anachorese = sich von der Welt zurückziehen) waren oft ägyptische Bauern, die der Schrift nicht mächtig waren. Sie zogen sich in unbewohnte Gegenden und in die Wüste zurück, um sich in Einsamkeit und Stille ganz der inneren Wahrheit auszusetzen. Nichts sollte sie davon ablenken, auf das eigene Herz zu hören: kein Besitz, keine Gesellschaft, keine Abhängigkeit. Sie waren, um das WortAnachoret salopp, aber nicht falsch zu übersetzen, „Aussteiger“.
Als das Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts zur Staatsreligion wurde und sich alte Herrschaftsfamilien der Kirchenorganisation bemächtigten, fühlten sich offenbar immer mehr Menschen gedrängt, nach einer ursprünglicheren Form der religiösen Erfahrung zu suchen. Sie fanden sie nach dem Vorbild von Antonius – einem Sohn wohlhabender Eltern, der sich 20-jährig in die ägyptische Wüste zurückgezogen hatte – an wüstenähnlichen Orten. Fern von gesellschaftlichen und familiären Zwängen setzten sie sich ganz den eigenen Gedanken und Gefühlen aus, um das zu finden, was als Umfassendes hinter allen Vorstellungen und Emotionen steht und sie begründet. Zu Hunderten, schließlich zu Tausenden zogen Männer und vereinzelt auch Frauen in die Wüsten Ägyptens und Syriens, um den Urwunsch vieler Menschen wahr zu machen: „bei sich selber zu sein“. Die einen lebten als Einsiedler ganz auf sich gestellt, andere in kleinen Eremitenkolonien. Es bildete sich nach und nach eine Bewegung von Aussteigern und Einzelgängern, die als Mönche (Monachos, griech.: allein, in sich geeint) abgelegene Orte besiedelten und insbesondere an Sonntagen miteinander Kontakt pflegten und zusammen Eucharistie feierten. Dank dieser Bewegung waren die „Aussteiger“ nicht allein auf sich gestellt, sondern konnten sich gegenseitig beraten. So entwickelte sich eine gemeinsame Kultur der asketischen Lebensführung. Auch wenn später – nach der ersten Klosterbildung durch Pachomius im Jahr 323 n. Chr. – die gemeinschaftliche Organisation immer mehr in den Vordergrund rückte, war für die ersten Wüstenmönche weniger die Gemeinschaftserfahrung wichtig als das Erleben in der Abgeschiedenheit. Um das außerordentlich harte Wüstenleben zu überstehen und das Ziel des Mit-sich-selbst-Einsseins anzustreben, setzten sie das Mittel der Askese ein. Durch Verzicht selbst auf geringste Konsum- und Besitzgüter sollte alles fern gehalten werden, was der Grund- oder Gotterfahrung entgegensteht.
Im Brief des Paulus an die Hebräer (11, 37–38) werden alttestamentliche Eremiten auf eine Weise charakterisiert, die auch auf die Wüstenväter zutreffen dürfte: „Sie sind umher gegangen in Schafpelzen und Ziegenfellen, mit Mangel,