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Sie schnitt sich, als sie den Umschlag öffnete.
Kestrel war neugierig gewesen, eine Närrin, dass sie den Brief nur aus dem Grund gleich öffnete, weil er in herranischer Schrift an sie adressiert war. Der Brieföffner rutschte ab. Blut tropfte auf das Papier und verlief dort hellrot.
Der Brief kam natürlich nicht von ihm, sondern von dem neuen herranischen Landbauminister. Er wollte sich ihr vorstellen. Er freue sich auf ein persönliches Kennenlernen.Ich glaube, Ihr und ich, wir haben viel gemeinsam und viel zu besprechen, schrieb er.
Kestrel war sich nicht sicher, was er damit meinte. Sie kannte ihn nicht, hatte nicht einmal von ihm gehört. Obwohl sie davon ausging, dass sie sich irgendwann einmal mit dem Minister würde treffen müssen – immerhin war sie die Botschafterin des Imperiums im nunmehr unabhängigen Territorium Herran –, war Kestrel nicht erpicht darauf, Zeit mit dem Minister fürLandbau zu verbringen. Sie hatte nichts zu sagen zu Felderwirtschaft und Dünger.
Kestrel erkannte die Überheblichkeit dessen, was sie da dachte. Sie fühlte, wie ihr Mund schmallippig wurde. Sie begriff, dass dieser Brief sie wütend machte.
Auf sich selbst. Auf ihr Herz, das einen Freudensprung gemacht hatte, als sie ihren Namen in herranischer Schrift auf dem Umschlag gesehen hatte. Sie hatte so sehr gehofft, dass er von Arin kam.
Aber sie hatte nun schon seit fast einem Monat keinen Kontakt mehr zu ihm, seitdem sie ihm die Freiheit seines Landes offeriert hatte. Und das auf dem Umschlag war nicht seine Handschrift. Die kannte sie. Sie kannte die Finger, die den Schreibstift gehalten hätten. Kurz geschnittene Nägel, silbrige Narben von alten Verbrennungen, die Schwielen an seinen Handballen – all das in seltsamem Widerspruch zu seiner eleganten Schreibschrift. Kestrel hätte sofort wissen müssen, dass der Brief nicht von ihm war.
Und dennoch: das rasche Aufschlitzen von Papier. Und dennoch: die Enttäuschung.
Kestrel legte den Brief beiseite. Sie zog die seidene Schärpe von der Hüfte, fädelte sie unter dem Dolch heraus, den sie wie alle Valorianer an der Seite trug. Sie wickelte die Schärpe um ihre blutende Hand. Es ruinierte die elfenbeinfarbene Seide. Ihr Blut befleckte sie. Doch eine ruinierte Schärpe spielte keine Rolle, nicht für sie. Kestrel war mit Prinz Verex verlobt, dem Erben des valorianischen Imperiums. Der Beweis dafür wurde jeden Tag in einer öligen, glitzernden Linie zwischen ihren Brauen nachgezogen. Sie besaß Schärpen über Schärpen, Kleider über Kleider, ein Meer aus Juwelen. Sie war die