1. Eine kurze Geschichte der Zauberei
Geschichte ist ein Engel, der rückwärts in die Zukunft geweht wird. Geschichte ist ein Haufen Scherben. Der Engel will zurück und die Dinge kitten, reparieren, was zerbrochen wurde. Doch vom Paradies her weht ein Sturm und bläst den Engel stets weiter rückwärts in die Zukunft. Dieser Sturm heißt: Fortschritt.
Laurie Anderson:The Dream Before1
Zehntausende alter und junger Leser wissen über das erste Treffen von Castaneda und Juan Matus im Jahre 1960 in einem staubigen Bushof in Arizona nahe der mexikanischen Grenze mehr als über die Begegnung von Dante und Beatrice an den Ufern des Arno. Das liegt wohl daran, daß Don Juans Lehren zu einer Zeit gedruckt wurden, in der mehr Menschen als je zuvor geneigt waren, auch nichtrationale Dinge zur Wirklichkeit zu zählen“,2 klagte das amerikanische Time Magazine im Frühjahr 1973. Es sah in Castanedas Schriften und ihrer Popularität untrügliche Zeichen für den Zerfall zivilisatorischer Werte, für den Untergang des aufgeklärten Abendlandes.
Ähnliche Befürchtungen hegte noch im Jahr 1994 der FAZ-Kritiker Hannes Stein in seiner Rezension zurKunst des Träumens, in der er „Castanedas Absage an Gesellschaft, Moral und Vernunft“ polemisiert. Stein stellt Castanedas Werke in eine Reihe mit MaysWinnetou und HessesDemian: „Wer in den siebziger Jahren noch immer nicht genug hatte, las Castaneda. Dort wurde dieselbe Erfolgsstory noch einmal erzählt.“ Man könnte das auch als Kompliment auffassen. Doch für Stein ist Castaneda ein Verführer der Jugend, „ein halbgebildeter Scharlatan“, sein indianischer Lehrer Don Juan „eine typische zivilisationskritische Projektion“ und seine Lehren „verdeckte Plagiate: ein Mischmasch aus Wittgenstein, Husserl, orientalischen Weisheits- und psychologischen Erlösungslehren“.3
Die universelle Abwehr gegen unliebsame Gedanken scheint immer dieselbe zu sein: Man spricht dem, der sie auszusprechen wagt, einfach die geistige Integrität, die Authentizität oder die historische Wirklichkeit ab, und der Fall ist erledigt. Oder doch nicht? „Was ist, wenn Castaneda gar nichts erfunden hat?“4 fragt der Beklagte im Sinne einer Antwort.
Dies war wohl auch die heimliche Furcht des Physikers, Autors und Castaneda-Kritikers Hans Peter Duerr, als er 1982 von Castaneda zu einer Aussprache eingeladen wurde. Bei diesem Treffen lernte Duerr auch Florinda Donner-Grau, eine weitere Schülerin des Don Juan kennen, was seine Zweifel an der Authentizität von Castanedas Berichten beseitigte. Er war nun doch „geneigt zu glauben, daß es sowohl Don Juan gibt (oder gab) als auch die Gruppe von Zauberlehrlingen“.5
Inzwischen haben zwei weitere Mitglieder jener Gruppe – Florinda Donner-Grau und Taisha Abelar – Berichte über ihre Lehrzeit veröffentlicht, was Castanedas Glaubwürdigkeit stützt und die Polemik von Stein und anderen Unzeitgemäßen besonders schal erscheinen läßt. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Castaneda und Don Juan sind historische Wirklichkeit, ja, sie haben selbst Geschichte geschrieben.