KAPITEL 1
»Hier, ich blute!« Nakahu hielt anklagend ihren Arm in die Luft, auf dem sich tatsächlich Kratzspuren abzeichneten. Ihre kleine Schwester Whano hatte ihr kurzerhand die Fingernägel in die Haut gerammt, als der Streit der Mädchen eskaliert war. »Damit hast du gegen Nunukus Gesetz verstoßen«, erklärte Nakahu wichtig und wies mit dem Finger auf Whano, die sie erschrocken ansah. »Und jetzt werden deine Därme verfaulen …«
Whano, gerade mal fünf Jahre alt, schmeckte das in Honig getauchte Stück Flachswurzel, um das sie eben noch so erbittert gekämpft hatte, plötzlich nicht mehr.
»Stimmt das,matahine?«, fragte sie ängstlich, doch ihre Mutter schien sie nicht zu hören. Pourou, die Weise Frau der Moriori von Whangaroa, war in tiefer Trance versunken. Sie sprach mit den Bienen, deren Honigvorräte die Frauen und Mädchen gerade plünderten. Ihre Anrufungen sollten die Tiere gnädig stimmen.
»Kimi?«
Ungeduldig wandte sich das verunsicherte Kind gleich darauf an das älteste der Mädchen. Die vierzehnjährige Kimi war der Zauberin behilflich, indem sie ein Feuer in Gang hielt und Kräuter verbrannte, deren Rauch die Bienen betäubte.
»Ach was, Whano, bei so kleinen Kindern üben die Götter noch Nachsicht.« Kimi, ein zierliches Mädchen mit langem schwarzem Haar, einem großflächigen Gesicht, gerader Nase und für ihr Volk sehr hellen, mandelförmigen Augen, die fast die Farbe des Flachsblütenhonigs aufwiesen, beruhigte das Kind beiläufig. Sie war ganz auf die Zeremonie konzentriert – nicht nur aus Hingabe an die Geister der Bienen, sondern auch, um die über den Raub erbosten Tiere am Stechen zu hindern. »Zumal Nakahu doch wohl angefangen hat. Ich habe das gesehen! Und nun haltet Frieden und lasst uns arbeiten. Dann gibt es bald genug Honig für alle.«
Geschickt näherte sie sich dem Bienenstock und holte mit einem speziellen Werkzeug blitzschnell ein paar Waben heraus, die vor Honig nur so troffen. Es war die Zeit, in der die Moriori den Honig der Flachsblüten tranken – ein Fest für die sonst nicht mit Leckereien verwöhnten Menschen auf den eher unwirtlichen Inseln.
Die Bienen verhielten sich tatsächlich ruhig, aber das hatte Kimi nicht anders erwartet. Pourou wartohunga ahurewa, eine mächtige Zauberin. Sie verstand es, mit den Tieren zu reden, und Kimi war sehr stolz darauf, dass sie nicht nur ihre eigenen Töchter, sondern auch sie selbst in dieser Kunst unterrichtete.
Nun packte sie ihre Beute rasch in Körbe, während Pourou langsam aus ihrer Trance erwachte und nur noch einige abschließendekarakia sang, bevor sie sich alle langsam und vorsichtig von den Bienen entfernten. Schließlich würden diese bald aus ihrem Rausch erwachen und den Moriori den Honig vielleicht doch missgönnen.
Whano schien den Streit mit ihrer Schwester schon vergessen zu haben, aber die drei Jahre ältere Nakahu war längst noch nicht davon überzeugt, dass die Götter