Freundschaft schließen
Es war auf einem Spaziergang in der Rhön, als ich hinter mir zwei Frauen sprechen hörte. Plötzlich erwähnte eine von ihnen den Namen »Johann Sebastian Bach«. Wie elektrisiert musste ich mich umdrehen, um zu sehen, wer diese Frau war, die meinen Lieblingskomponisten erwähnte, dessen Musik mich seit Jahrzehnten fast jeden Abend begleitet. Jeden Abend klingt vielleicht übertrieben, aber ich gebe zu, einen Abend ohne Bach empfinde ich so ähnlich wie ein Streichquartett ohne Violinen.
Wir kamen sofort ins Gespräch, fast als würden wir uns schon lange kennen. Von da an wanderten wir täglich zusammen, immer wieder streunend und mäandernd um unseren »Johann Sebastian Bach«, der uns zusammengeführt hatte. Irgendwie fanden wir so den richtigen Rhythmus zwischen Gehen, Sprechen, Lachen, Trällern und Innehalten. Offen für Zeit, die nicht den Uhren gehörte, für Gedanken, die nicht kontrolliert werden müssen, für Lust am neuen Zusammensein.
Im Älterwerden ist es schwieriger, neue Freundschaften zu schließen. So sagt man jedenfalls. Äußere Faktoren mögen dazu beitragen: feste Tagesabläufe, familiäre Belastungen, neue Prioritäten, Überempfindlichkeiten, Unverträglichkeiten oder auch vermeintliche Menschenkenntnis, die dafür herhalten muss, dass man gnadenlose Maßstäbe für andere ansetzt. Eine Politikerin, die es bedauert, offen für neue Begegnungen zu sein, meinte: »Für mich war das Leben als junge Frau wie ein ›blind date‹ oder eine aufregende Riesenparty, weil ich total offen und neugierig war. Heute erschrecke ich, wie pingelig ich geworden bin. Ich ertappe mich, wie ich bei anderen sofort etwas auszusetzen finde, auf höchstem Niveau nörgle und ganz schnell kritisiere.«
Vielleicht ist es schlicht das Nachlassen der Kräfte, das die Offenheit für neue Freundschaftsbündnisse reduziert. Dennoch bleibt bei den meisten das Bedürfnis, anderen näherzukommen. Geht nicht letztlich alle auch noch so überlagerte Sehnsucht dahin, dass man im Herzen eines anderen Menschen wohnen darf?
Sie möchte »nicht allein im Regen stehen«, so drückte es meine Bach-Freundin aus. Wir beide realisierten: Älterwerden kann wie die Jugend auch eine Zeit der Entdeckungen sein. Gewiss nicht mit den gleichen Leidenschaften, Gefühlswallungen, Spannungen, himmelsstürmenden Freuden, Verantwortungen. Was aber bleibt, ist unser unabänderliches Recht auf Veränderung.
So spürte ich bei dieser Bach-Begegnung etwas von der Kraft des Frühlingsanfangs. Es tat mir gut zu merken, dass Älterwerden nicht vor neuen Freundschaften schützt. Sondern umgekehrt: Neue Freundschaften schützen vorm vorzeitigen Älterwerden. Früher gab es eine Zeit, da brauchte es eine neue Liebe oder ein neues Projekt, um mich in Hochstimmung zu versetzen. Heute geschehen andere Wunder, die ich früher wahrscheinlich übersehen hätte, ein Baum mit einer Narbe, ein altes Gesicht, ein schlummerndes Kind oder eben jemand, der singt oder abends auch Musik hört.
Wir fanden uns leicht. Und die zurückgelegten Wanderungen, die Gerüche der Blätter und Blüten, die Erfahrung dieses vielsprachigen, atmenden Waldes trugen dazu bei, dass wir uns aufgehoben fühlten und irgendwie immer vertrauter wurden.
Ähnlich wie die Musik oder die Liebe ist solch ein Anfang unverfügbar. Er lässt sich nicht beschließen und begründen. Freundschaft lässt sich nicht verordnen oder analysieren. Allenfalls im Nachhinein, wenn die freundschaftlichen Bahnen Formen angenommen, sich gefestigt haben oder sich verlieren. Aber dieser Zauber, der am Anfang steht, lässt sich nicht in Erklärungen, Beschreibungen von Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten einfangen, die